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Kreativ sein

Das mit der Kreativität ist auch so eine Sache. Wie schön ist es, bei Regenwetter am Schreibtisch in der Bibliothek zu sitzen, einen Tee zu trinken und Geschichten zu schreiben. Aber sie müssen irgendwo herkommen, sie müssen sich formen. Da braucht man einen Funken, eine Inspiration, eine Begeisterung. So kommt es, dass man in die Stadt muss, in die Kälte hinaus, durch die Straßen. Man soll sich einfach treiben lassen und schauen, was passiert. Ab in die Nacht.

Es ist schon längst dunkel und ich laufe durch die Wohlwillstraße, weil sie so schön ist nachts. Es hat geregnet und die Bürgersteige sind weich, weil die Blätter sie bedecken. Es fahren einige Autos hin und her, nur ein Parkplatz ist frei, weil dort ein riesiger Blätterhaufen liegt. Ich bleibe stehen und sehe zu, wie ein kleines französisches Auto einparken will. Ob es das schafft? Ohne zögern fährt es rückwärts schnell in den Blätterhaufen hinein, die Räder drehen durch, aber bald ist es gut geparkt. An der Fahrerseite steigt eine Frau mit roten Lippen, einem kurzen Kleid und High Heels aus, ihre Haare sind durcheinander und sie steht etwas verloren in den Blättern. Der Beifahrer kommt um das Auto herum und nimmt ihre Hand. “Ich fühle mich, als hätte ich den ganzen Tag im Bett gelegen, wilden Sex gehabt und nicht geduscht”, so sagt sie und sieht ihn provozierend an, “dabei habe ich gerade doch geduscht”. Er lacht. Sie überqueren die Straße, gehen zur kleinen Pause. Die beiden sind kreativ, so viel steht fest.

Ich gehe zu Café Stark, kaufe eine Zeichnung von einem Mann, der dort neben seinen ganzen Plastiktüten in der Ecke sitzt und immer wieder einschläft. Ob er einen Kaffee möchte? Nein, möchte er nicht. Als er dann wieder aufwacht, fragt er mich auf Englisch, ob er auch einen Tee bestellen kann, er nimmt ein Stück Bananenbrot dazu. Er weiß natürlich, dass er auf der Straße überleben muss, Kaffee kühlt den Körper schnell aus, Tee wärmt besser. Die Zeichnung ist ein Bild von Martin Luther King, mit seinem bekannten Text. Wir unterhalten uns noch kurz auf Spanisch. Bevor er wieder auf die Straße geht, bedankt er sich, hebt die Hand zum Gruß, nennt mich hermana, Schwester.

Heute ist es Freitag, es regnet nicht. Die Novembersonne weiß, was sie hat. Sie braucht sich nur kurz zu zeigen und wird sofort von allen geliebt. Wenn die Tage kurz sind, wenn es fast jeden Tag regnet, stürmt und ungemütlich kalt ist, ist der Auftritt der Herbstsonne ein heißbegehrtes Geschenk. Sie ist blass und vornehm, kleidet sich in Wolkenschleiern, bewegt sich kühl durch die Luft, wir vergöttern sie. Wir strecken ihr unser Gesicht entgegen, wir öffnen die Armen für sie, wir nehmen sie auf. Sie gibt uns sogar etwas von ihrem Glanz ab, so dass wir auch leuchten.

Heute treffe ich mich mit einem Kollegen von Baufritz, er heiß Jörn und ist relativ neu bei der Firma. Ich bin auf dem Weg in die Stadtbibliothek und halte in Café Paris an, wo wir verabredet sind. Wir überlegen, uns draußen hinzusetzen, wie zwei verwegene Raucher, nach Hamburger Gewohnheit: so bald man seinen Schatten auf der Straße erkennen kann, kann man sich draußen hinsetzen. Aber wir gehen rein, die Sonne reicht in dieser Jahreszeit nicht bis unten in die Straße.

Was ist mit der neuen Haustechnik, will ich wissen. Es gibt neue Dämmwerte und eine frisch aufgestellte KfW-Tabelle. Gestern hat eine junge Frau im Vorwerkstift erzählt, sie würde nachts noch oft aus dem Bett wieder aufstehen und in die Werkstatt gehen, um nachzuschauen, ob der Lötkolben auch richtig ausgeschaltet ist. Sie würde die Aktion des Ausschaltens mit dem Licht verbinden. Licht aus heißt Kolben aus. Ein Lötkolben kann ganz schön viel Unheil anrichten, siehe Notre Dame. Eine Freundin meinte, das kennt sie, sie hat das gleiche mit dem Herd. Immer noch mal zurück, um zu schauen, ob er aus ist. Ihre Schwester würde vor Verlassen des Hauses ein Foto vom Herd nehmen, so dass sie sich sicher sein kann, dass sie ihn ausgeschaltet hat, auch unterwegs, wenn die Zweifel kommen. Nun, das finde ich sehr witzig, aber auch bedenklich. Sind wir so fahrig geworden, dass wir uns die einfachsten Sachen nicht merken können? Hat das etwas mit Reizüberflutung zu tun?

Früher hat man das auch schon gehört, aber das waren dann ältere Leute, die sich nicht sicher waren, ob sie etwas gemacht hätten oder nicht. Sie haben die Schlüssel verlegt, den Herd nicht ausgeschaltet, meistens jedoch nur gedacht, dass er nicht ausgeschaltet war. Die Kilometer, die man fürs Nachschauen zurückgefahren ist, sollte man mal aufschreiben, da käme eine ganze Menge zusammen. Aber junge Menschen? Müssen die ihre Arbeitsschritte dokumentieren, damit sie wissen, ob alles korrekt ist? Damit sie sich beruhigen können? Was ist dann mit der Kreativität?

Jörn meint, das kann man alles mit schlauer Haustechnik in den Griff bekommen. Ein Schalter beim Rausgehen, so dass alle Steckdosen und Geräte sich abschalten, nur das Notwendige bleibt verbunden, wie der Kühlschrank. Das wäre sowieso das Beste, auch nachts, damit Ruhe einkehrt. Wie soll sich der Kopf denn sonst freimachen und Platz für die Kreativität schaffen? Wenigstens nachts sollte man zulassen, dass die Zellen sich regenerieren.

Ich denke an das Pärchen im Blätterhaufen. Sie hatten kein Handy dabei, das Auto hatte keine Einparkhilfe, kein Navi. Zum wahren Entspannen gibt es also noch andere Methoden, so denke ich.

Den ganzen Tag im Bett bleiben. Vielleicht duschen. Hand in Hand ausgehen und sich über ein gelungenes Einparken freuen.

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