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Oben am See
Christine Rainer
Stadtschreiberin 2023: Christine Rainer
Oben am See
läuft was aus dem ruder
ein boot fährt aus
versenkt einen wald
aus schweigen
1.
Der Salzstreuer liegt quer auf dem Tisch, daneben ruht ein spärlich behaarter Kopf. Auf den Salzkristallen machen sich Fliegen zu schaffen. Eine setzt sich auf die fettigen Haare. Eine
Zweite gesellt sich dazu, reibt sich die Vorderbeine. Die Uhr an der Wand tickt, das Holz im Ofen knackt. Bald wird das Wasser im Kessel kochen. Jemand wird kommen, den Kopf auf der Tischplatte sehen, wird sagen: „Ho, ho, warum schläfst du hier so gemütlich? Die Euter sind prall, die Kühe schreien wie verrückt!“ Er oder sie wird den Kessel vom Feuer ziehen, zum Tisch gehen, ihn rütteln, spüren, dass er sich trotz der warmen Küche kalt anfühlt. Die Fliegen werden sich aus dem Staub machen, sich auf den Vorhang setzen, abwarten was passiert. Aber noch ist es nicht soweit, noch wühlen die Fliegen in den Haaren, die Glut wärmt, die Uhr tickt. Ein friedliches Bild. Jesus schaut ungerührt vom Herrgottswinkel herunter. Ihn kann nichts erschüttern, er hat schon ganz anderes gesehen.
2
Es ist der Nachbar, der kommt. Sein uralter Schlepper streikt. Der Keilriemen ist gerissen.
Er steht ratlos an der schmalen Straße. Sonst ist hier nur schwacher Lärm von der Schnellstraße
zu hören, die ihren Schall die Hänge hochwirft, Vogelzwitschern, ab und zu ein Hahn, der sich
in der Zeit vertut, aber heute ist es laut. Kühe brüllen. Er schaut zum Wohnhaus hinauf. Aus
dem Kamin kommt Rauch. Sieht aus wie immer. Dann wird ihm plötzlich ganz heiß. Hat er
womöglich vergessen, dass er die Kühe melken soll, weil der Bauer auf die Messe fahren
wollte. Er denkt nach, aber sein Hirn fühlt sich leer an, bis auf einen leichten unangenehmen
Luftzug in seinem undichten Schädel. Er kann sich nicht erinnern. Er macht sich auf den
Weg. Er kennt sich aus, hilft öfters aus. Alle anderen haben längst das Weite gesucht, bis in
höchste Himmelsregionen. Während die Maschine die Euter leer pumpt, denkt er an die
Buben, wie sie früher schon vor der Schule in diesen Stall mussten, damit der Vater seinen
anderen Geschäften nachgehen konnte, wie sie gehänselt wurden, weil sie nach Ammoniak
stanken, direkt aus dem Stall in die Schule. Die väterlichen Schläge haben auch nicht
geholfen. Die Mutter hat gebetet, glorreiche, schmerzhafte, dornenreiche Rosenkranzperlen
sind durch ihre Hände gekrochen. Sie hat versprochen, dass ihnen im Himmelreich alles
vergolten wird. Sie war eine schöne Frau, am Anfang. Bei der Geburt des vierten Kindes wäre
sie beinahe gestorben, das fünfte Kind hat schon nach drei Monaten Reißaus genommen. Ein
kleiner weißer Sarg an einem heißen Sommertag verschwand in der staubigen Friedhofserde
samt dem Verstand der Mutter. Sie ist der Kleinen bald hinterhergeflattert.
Er leert die letzte Milch in den großen Kühlcontainer. Die Kühe liegen erschöpft auf ihren
Plätzen. Er sieht zum Wohnhaus hinauf, alles ruhig. Er geht hinten durch die Werkstatt
hinaus, stutzt. Da hängt doch tatsächlich ein Keilriemen an der Wand. Der dürfte passen.
Kurz denkt er an die Flinte im Küchenschrank beim Bauern oben, aber er wird im Tal gleich
einen Neuen besorgen. Er wird gar nichts bemerken. Seine steifen Finger tun sich schwer
beim Einfädeln, aber der Riemen passt, der Schlepper lässt sich anstandslos starten. Er fährt,
hofft, dass er das Richtige getan hat. Am späten Nachmittag kommt er wieder, melkt die
Kühe, füllt den Container. Es ist schon dunkel. Am Heimweg rast ein Auto an ihm vorbei. Er
hätte schwören können, ein Polizeiauto. Sicher ist er nicht, nachts sieht er nicht mehr so gut,
aber das muss ja niemand wissen.
3
Der Mond steigt ungewöhnlich früh auf, beleuchtet einen Zahn, der auf der nass glänzenden
Straße liegt. Otto geht diese Straße entlang. Otto ist spät dran, wie immer. Er wartet bis alle
Kinder aus der Schule sind. Er hat ein gutes Versteck in der Besenkammer. So entgeht er
zumindest am Heimweg den Beleidigungen, den Zotteleien, den Boxereien. Es ist spät.
Mama wird murmeln: „immer diese Bummelei“. Dabei kommt sie selbst oft spät, weil sie nach
der Arbeit noch schnell dieses und jenes macht, einkaufen oder irgendwo noch Bügelw.sche
holt, um noch was dazu zu verdienen. Das zugige Haus frisst in der kalten Jahreszeit
unfassbare Mengen an Energie, um einigermaßen warm zu werden, ständig wird wie von
Geisterhand etwas kaputt. Otto ist auch ganz schön kostspielig, wächst ständig aus allem
raus, nie in dieses Dorf rein. Er sieht die Mutter seufzen. Ihr Gehalt als Krankenpflegerin
reicht meist nicht bis zum Monatsende. Otto denkt darüber nach, wie er selbst zu Geld
kommen könnte, über einen Banküberfall oder besser... Mitten in einem fantastischen
Tankstellenüberfall schaut er auf den Zahn, der mitten auf der Straße liegt. Er sieht sich um,
weit und breit niemand zu sehen. Er nähert sich dem Zahn, umkreist ihn. Sieht aus wie einer
seiner Milchzähne, die seine Mutter aufgehoben hat, nur größer. Ein bisschen ekelt es ihn,
aber dann ist die Neugier doch stärker. Er hebt ihn auf, geht zur Straßenlaterne und sieht ihn
sich an. Blut klebt am Zahn, eher frisch, aber vielleicht wirkt es auch nur so, weil es geregnet
hat. Er nimmt ein zerknülltes Taschentuch aus seiner Jackentasche und wickelt den Zahn ein.
4
Oben am See hat einer einen groben Fehler gemacht. Statt die Schleusen wieder zu
schließen hat er sie weit aufgemacht. Ein großer Schwall ergießt sich in den Bach, reißt alles
in seiner Nähe mit sich. Er kann nur hoffen, dass er nicht zu viel angerichtet hat und dass
keiner Rückschlüsse zieht. Eigentlich ist es Miras Schuld. Per SMS schreibt sie ihm, dass
Schluss ist, endgültig. Wie hätte er da die Nerven bewahren, den Schnaps im Schrank lassen
können. Er muss Geri anrufen. Er wird ihm helfen.
5
Geri wollte nie Polizist werden. Sein Vater war Postenkommandant im Ort und es war klar,
dass er sein Nachfolger wird. Nicht für ihn, nur für alle anderen. Der Typ vom Kraftwerk hat
wieder irgendeinen Mist gebaut, dem war er noch was schuldig, für die Sache, die er für ihn
im See versenkt hat. Wahrscheinlich ist wieder etwas zu vertuschen. Darin hat er langsam
Übung. Er rast die Landstraße entlang, schaut noch einmal auf die Nachricht. Da knallt es
plötzlich. „Scheiße!“, fluchte er, denkt an ein Reh, dass ihm sicher seine Stoßstange verbeult
hat. Er schaut in den Rückspiegel. Die leere Straße glänzt im Rot des Rücklichts. Er wird das
später erledigen, liegt sicher im Straßengraben. Der Typ im Kraftwerk ist ganz aufgelöst und
alles andere als nüchtern. Er denkt nach. Sie beschließen ein technisches Gebrechen zu
inszenieren, um den eigentlichen Fehler zu vertuschen. Er packt den aufgelösten Typen ein,
bringt ihn nach Hause. Bambi kann er morgen auch noch bergen, vielleicht ist das dumme
Reh ohnehin im Wald verschwunden, dort längst verendet. Morgen wird er das Auto zu Charly
stellen. Der wird alles schweigend ausbügeln, wie immer.
6
Vor dem Heimdienst macht Mira täglich ihre Runde durch die Gemeinde, wechselt Verbände,
kontrolliert Medikamente, redet gut zu. Heute muss sie auch zum Alten hinauf. Es graut ihr
schon. Er hätte ihr was Wichtiges zu sagen. Die Haustür ist offen, es riecht nicht gut, eine
Mischung aus Moder und vergammelten Kartoffeln. Er sitzt in der Küche, salzt gerade ein Ei.
Sie bleibt im Türstock stehen. Er grinst. Das kann nichts Gutes heißen. „Es ist jetzt verjährt!“
sagt er. „Du kannst mir nichts mehr anhaben!“ Sie wird blass. Sie weiß nicht, ob er recht hat.
„Aha“, sagt sie nur, „So ist das also, war das alles?“ „Wenn du schon da bist, kannst du mir
doch meine Spritze geben, ein letztes Mal.“ Er grinst überlegen. Sie lächelt milde, stellt ihre
Tasche auf die Anrichte, macht sie auf, nimmt eine Spritze, eine Ampulle. Sie schüttelt das
dünne Glas, bricht es an der Spitze. Es gibt einen leisen Knacks. Sie zieht die klare
Flüssigkeit auf. Er zieht sein dreckiges Hemd hoch. Die häufigen Einstiche haben die faltige
Haut verunstaltet. Sie verstaut ihre Utensilien sorgsam. Er reißt plötzlich die Augen auf, hält
sich an der Tischkante fest. Der Kopf knallt auf die Platte. Der Salzstreuer fällt um. Sie schaut
sich in der Küche um, schaut auf das Foto der Mutter, lächelt ihr zu. Mutter lächelt zurück,
zwinkert. Sie hat nichts liegen gelassen und er ist nicht im Dienstplan eingetragen. Sie staunt
über sich selbst, wie ruhig sie ist. Sie schreibt eine SMS, die sie schon längst hätte schreiben
sollen. Am Rückweg kommt ihr niemand entgegen. Sie besucht die erste Patientin laut
Dienstplan, wechselt sorgsam den Verband am offenen Bein. Nach dem langen Dienst geht
sie zu Fuß nach Hause, um einen klaren Kopf zu bekommen. Die Sonne ist hinter den
Bergen verschwunden, ein kalter Wind kommt auf. Es wird schnell dunkel. Gedankenverloren
quert sie die Straße. Sie sieht das Auto nicht, das auf sie zukommt.