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in einem Haus
Franziska Schubert

 

Stadtschreiberin 2022: Franziska Schubert
In einem Haus

PROLOG

Die Mütter, Müttervertreterinnen, Klageweiber kommen und packen die russischen Söhnchen. Tragen die ukrainischen Leiber. Bestücken ein Haus mit Toten. Schieben und stopfen die Körper, lagern sie übereinander. Versuchen die Namen zu finden, auf der Haut der Verstorbenen für den Fall des Fallens. Diktieren. Schreiben sie auf. Singen Lieder, essen Wurst, lachen und rauchen. Beklagen, weinen die Tränen. Erledigen die Totenwache. 

Das volle Haus wird verriegelt. Der Dampf tritt nicht aus. Sie laufen durch die sandige Schlucht auf Knochenstufen nach Hause, die Taschen voll mit Namen, die Jacken enger am Leib. Es ist kalt. 

 

WALD

„Es ist kein Spiel. Es ist kein Spiel Mütterchen, ich ertrinke in meinem eigenen Saft.“ 

Das letzte was er in dem Wäldchen noch von sich gibt, ist ein Bellen.

Bevor das Blut in die Kehle schwappt, bellt er wie zuletzt in seinem russischen Heimatdörfchen. Es ist die geheime Erkennung seiner Familie. Wenn er den Sandweg nach Hause einschlägt, bellt er und sein Mütterchen bellt zurück.

Jetzt hört er keine Antwort, nur das Rauschen seines Blutes und der Natur. Er hört die Stimme seiner Mutter:

 „Söhnchen, Aleksandr, Sascha, Saschenka, Saschka, San`ka, Saschetschka, Schurka, Schurotschka. Söhnchen, was hast du wieder gemacht, du sollst doch nicht mit den Steinen schmeißen. Guck Dich an, Söhnchen. Deine Kleidung ist nass.“

Die Kugel feuert nicht in der Schlucht, sondern aus der Schlucht heraus. Dem Vorort der ukrainischen Hauptstadt. Babyn Jar die Herberge vieler Knochen. Abgefeuert.

Aleksandr fällt, hält sich den Bauch. Liegt auf Sand zwischen Birken, sieht Weiß, Schwarz und Grün. Es wird warm am Bauch. Er bellt. 

Sein Hirn rattert die Stationen seines Lebens ab. Es sind nicht viele, dauert nicht lange. 

18 Jahre in Sekunden. Er denkt an seine Frau, seine Frau die er nicht hat. Er denkt an die Frau die er hat. Er sieht sich auf ihrem Bauch liegen mit Nabelschnur um den Hals. Sein Mütterchen, dass ihn alleine geboren, großgezogen hat. 

Erkennt er die Stimme seines Vaters? Nein.

Beschämt darüber keinen anderen weiblichen Körper zu kennen, nur den des Mütterchens. Die männliche Regung versandet, versickert, bäumt sich empor, stirbt.

Er hat sich gefreut. Der Sand seines Vaters, das Land seiner Sehnsucht. Raus aus dem Haus, weg auch von der Mutter in die Vaterwelt, endlich Wehrpflichtiger, fast Soldat- „tadloS“ rückwärts, will er nicht bleiben. Weg auch zu einer möglichst anderen Frau. Nur eine Übung, Spezial Operation, zweiwöchige Zugfahrt, Bauchschuss nach zwei Tagen. Den Tod kann man nicht üben, ausgehaucht auf der Vatererde.

 

DORF

Mütterchen schreckt auf im Schlaf. Das Söhnchen bellt wieder, zwei Wochen Zugfahrt entfernt.

Sie steht auf und beginnt in der Nacht den Tag. 

Sie stellt sich auf den Sandweg vor das Häuschen und lauscht. 

Die Natur ist laut. Der Bauch knurrt auch. 

Sie setzt sich auf die Bank und streicht ihre Haare. 

Die lose verhaken im Strauch.

38 Jahre, Mutter eines Sohnes, verwitwet, verwaist. 

Am Leben. 

Sie hört die Stimme ihrer Mutter:

„Töchterchen, Darja, Dascha, Daschenka, Daschulja, Daschka, Töchterchen, mein Töchterchen. Wie oft habe ich es schon gesagt, trink meine Daschenka, trink das Gläschen leer.“

Nur zehn Jahre spricht die Stimme ihrer Mutter. 

Nach weiteren zehn selber Mutter.

Sie krächzt: 

„Aleksandr…Saschenka, ich hätte den Mutterkuchen essen sollen. Dann wäre ich stärker geworden und die Raubtiere wären Dir nicht auf die verlockende Spur gekommen. Keine Verwesung, aber Verdauung des Kuchens.

Sascha, warum fliegen keine Steine durch die Luft. Ich höre dich bellen, Sascha. Mein Söhnchen, mein Leben du, mein Tod. Tot.“

Dascha spricht zu sich selbst, sie ist allein: „Ich sage es, gleich schreie ich es heraus, ich kann nicht anders: es ist Krie…, Krrr, Genickbruch. 10 Jahre, Dascha wach auf, Du bekommst 10 Jahre für ein einziges Wort. Halt die Schnauze und lass das russische Radio krächzen: „Eine Rückführung der Leichen lehne man ab, um keine Panik zu erzeugen, Spezialoperation, Spezialeinsatzkommando, Sonderoperation.“ Operation am jetzt panischen Herzen.

 

Sie hievt ihren Körper, als wäre es ihr letzter Gang nicht seiner, zu dem Schuppen hinter dem Haus. Sie greift im Dunkel die Schaufel. 

Auf der Dorfstraße aus Sand gräbt sie sein Grab.

Eine Sandburg zur Seite, liegt sie für ihn, als Mutter auf der Erde. Sieht oben eine Wolke, schwarz wie Blut. Die Dorfbewohner beugen die Gesichter über die Grube, rahmen die Wolke. Viele Grimassen als Begrenzung des Himmels. Es lacht aus dem Loch. 

Sie sagen: „Daschenka, die Wagen stauen sich. Steh auf, komm raus aus der Erde. Geh deiner Wege und halte den Mund. Wir trinken ein Gläschen. Es lebe dein Söhnchen. Dein Loch muss zu. Daschenka, was kriechst Du im Schützengraben rum, ohne seinen Körper gibt es auch kein Grab.“

 

NIEMANDSLAND

Aus einfachen Lehmziegeln soll das Wohnhaus sein. Das Totenhaus jedoch errichte man aus Stein. Der Weg als Inschrift hineingeschabt für alle zu entziffern, die nach uns kommen. So gehen wir von Zeit zu Zeit. Gehen zu unserem Steinhaus und kratzen eine Wendung unseres Lebens in die Linie die dort schon eingemeißelt ist. Wir sitzen vor unserem steinernen Haus und schaben die Geburt des Kindes, den Tod des Vaters an die Wand, betreten es aber nicht. Irgendwann gewähren wir uns Einlass, dann liegen wir und meißeln nicht mehr.

 

STADT

„Gib mir die Schere Mutter, die Haare müssen ab.

Mutter, gib mir die Schere, mit langen Haaren gibt es keinen Kampf. Dann nehme ich ein Messer und schabe sie vom Kopf. Um 12 Uhr muss ich am Platz sein, Mutter. Den Rest rasiere ich ab.“

Mutter sagt: „Anatoli, Tole, Tolic, Anatolski, Tolka bitte bleib. Deine langen Haare Gott im Himmel, es kann doch nicht sein, eben war die Welt noch Ganz.“ 

„Nimm den schwarzen Stift der immer hält und schreibe mir alles Wichtige auf den Rücken Mutter. Name, Nachnahme, Alter und Kompanie. Schreibe auch deine Telefonnummer, wer du bist, sie kennen dich, können dich für den Fall so leichter finden.“

Anatoli 18 Jahre steht mit nacktem Körper mit dem Rücken zur Mutter, glattrasiert   wartend, bis ihre Hand, die schreiben kann, den schwarzen dicken Stift ansetzt auf sein weißes Fleisch: Buchstaben reiht sie aneinander,“ A“ für Anatoli, ein „T“ für Tolja, für Tolik.  Sie schreibt sein Geburtsgewicht, seine Körperlänge, seinen Kopfumfang, das Datum seiner Geburt, die Uhrzeit, Geburtsstadt Kiew. Schreibt sein Kindergebet, was er gerne isst, wann er friert und wo er wohnt. Er, der Sohn hält still, darf sie nicht unterbrechen. Es sind ihre schusssicheren Verse die sie ihm anlegt. Um ihn gehen zu lassen, für sein Land, an die Waffen, in die Gräben gegen die Russen. 

Tage später steht er nackt vor seinen Kameraden wie ein tätowiertes Buch. Sie lesen die Mutterverse der Schriftstellerin. Geburtsstadt Kiew, da stöhnen, seufzen sie auf. Der Rücken beschrieben, der Bauch, die Arme auch, auf einem Bein steht Schwein, gegenüber Haus, schwarz auf weißer Haut.

 

LAND

In Plastik verpackt, Teppichen gleich werden die Körper eingerollt und aufgeladen. Transportiert, verladen, umgeladen. Zur Unruhe in ein Haus gerollt, mit anderen Söhnchen. Auf Sand, im Wald zwischen Bäumen und Gestrüpp. 

Die Büsche hängen voll Haare, die wedeln eine kleine Musik aus vergangenen Jahren. Sie streifen die Stirn des Lebensabends. Mein Töchterchen, mein Mütterchen, was sitzt ihr im Zug und pustet die Scheibe? Hier ist der Atem aus.

Kein Kühlhaus, aber ein Haus auf dem Land mit vielen Rollen, eine Grabstätte im Dorf der Toten. Die ehemaligen Baracken in der bekannten Schlucht, auf dem verdreckten Kalk. Jüdische Knochen aus Treibsand. Der Anfang einer Infizierung mit was? Es tönt aus dem Nachbarland: „Wir müssen die Höhlen finden und sie wie Ratten vernichten“.

Die Mutter bürstet die Haare ihres Kindes, flechtet sie sorgfältig wie jeden Abend. Ihre Tasche hat sie neben sich gestellt, den Zopf legt sie in einen alten Turnbeutel dann in das Bunkergepäck. Sie schaut auf das Haus, mit den anderen Müttern. Sie zeigt ihre Hände, schwarze Striche, die Reste darauf. Sie singen ein Lied für ihre Söhne aus der Ukraine, für die Söhnchen aus Russland, stellvertretend für die Mütterchen die nicht wissen, dass gesungen werden muss. Sie nimmt ihren Block, ihren Stift, ihre Arbeit wieder auf. Sie kann nicht mehr schreiben, sie schreibt: „Ukrainische Wariniki“ sind nicht umsonst der Renner unserer Küche. Man nehme, wenn kein Krieg ist, ja hier darf ich es sagen, für den Teig 400g Mehl, ein Ei, 100ml Wasser, falls ihr sauberes Wasser bekommt. Salz nach Belieben. Die Füllung braucht 600 g Kartoffeln gegart, 200 g Magerquark, eine große Zwiebel fein gehackt. 2 Esslöffel Butter, ein Ei etwas Salz, schwarzer Pfeffer, Schmand und Dill. Mein Gott Schmand, Schmand, wann sehe ich dich wieder? Den fertigen Teig abdecken und mindestens 30 Minuten ruhen lassen, diese Ruhe gibt es nicht mehr. Die Ruhe ist aus.

 

EPILOG

In 70 Jahren werden die Leichenrollen evakuiert, sortiert nach russischen, ukrainischen Rollen. Rückgeführt in die Wälder, die Dörfer die Städte der Heimatorte. Die Toten finden die allerletzte Ruhe in den wieder geöffneten Gräbern ihrer Mütter. Knochen fällt auf Knochen, zurück in die Muttererde, so wie sie das Leben begonnen haben, gekittete Nabelschnüre.

Eine Verwesungsflagge im Wind. Mütterchen, Väterchen, Töchterchen, Söhnchen, Großmütterchen, Großväterchen, Schwesterlein, Brüderlein wo seid ihr? Der Platz ist rot, die Freude ist groß, die Toten sind zuhause.

franziska@stadtschreiberin.de

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mit ohne Ruder 
Thorsten Dörp

Stellvertretende Stadtschreiberin: Thorsten Dörp
Mit ohne Ruder

Dort, wo wir hinzogen, knirschte im Winter der Schnee und im Sommer kitzelte das Gras unter den Füßen. Als wir ankamen, war es irgendwas dazwischen: das Weiß war geschmolzen und die Blumen brachten sich in Stellung. Ich glaube, so etwas nennt man Aufbruch.

In der Stadt, aus der wir kamen, gab es keine Jahreszeit. Der Winter war nass und der Sommer brachte den Feinstaub. Die Region war ein einziges Grau. Laut, schwermütig und verbaut. Wie viele hier, war auch mein Vater Teil dieses Graus. Er war Kranführer und ich elf Jahre alt, als er vom Gerät stürzte. Damals hockten wir beim Abendessen, als es an der Haustür schellte. Mutter, meine drei Geschwister und ich. Vaters Teller stand wie jeden Abend am Tischkopf, eingepfercht von seinem Besteck und der Stoffserviette im Silberring. Ein Erbstück. ‚Knappe hundert Meter‘ und ‚unser tiefstes Beileid‘, so die Worte, der Männer im Anzug. Die Nachricht zog wie ein schlechter Geruch durch den Flur, während wir Bratkartoffeln in uns hineinschaufelten. Ich verstand die Worte, wusste aber nicht um deren Bedeutung. Mutter ließ die Tür ins Schloss fallen. Für Sekunden wurde es still in der Wohnung. Kein Knacken der Heizung, kein Surren des Stromzählers, auch nicht das ansonst immerwährende Pfeifen, das durch die Fensterrahmen zischte. Die schlurfende Bewegung ihrer Füße war das erste, das wir wieder hörten, dazu murmelte sie Undeutliches. Als Mutter in die Küche zurückkehrte, hatte sie ihr Gesicht verloren. Sie sah aus wie die Stadt. Wir Kinder erhoben uns von den Stühlen, versammelten uns um sie herum und wussten nicht wohin mit ihren Tränen. Zehn Füßen, unterschiedlich groß, entzog sich mit einem Ruck der Boden. Hilflos sahen wir Mutter dabei zu, wie sie ihr Gesicht tiefer in die Hände grub. So tief, dass wir fürchteten, sie könnte ganz verschwinden. Mit einem Mal rauschte einer der Teller zu Boden. Vaters Teller. Er zerbrach, zum Glück war er leer. 

Ab diesem Tag standen nie wieder Bratkartoffeln auf dem Tisch. Eine Entbehrung ohne Gewicht, verglichen mit dem, was uns noch bevorstand. Mit jedem Atemzug spürten wir, dass Vater nicht nur die große Liebe unserer Mutter war, das Mannsbild mit dem wir Söhne unsere Kräfte maßen oder der Prinz und Geschichtenerzähler der Mädchen, sondern auch, dass er mit dem verhassten Grau und all seinen Baustellen unsere Familie ernährte. Verzicht ergänzte den Verlust und nahm mehr und mehr von dem Raum ein, den wir zum Leben brauchten. 

Kaum lag die Beerdigung einige Tage zurück, erlitt Mutter einen Nervenzusammenbruch. Immer öfter besuchten uns fremde Menschen zu Hause. Sie liefen durch die Wohnung, trugen dicke Mappen in ihren Armen, in die sie sich Sätze notierten. Mein älterer Bruder verlor seine Stimme und unsere jüngeren Schwestern jammerten mittlerweile selbst in den kurzen Momenten, in denen sie sonst nicht weinten. Eine Stimmung wie Treibsand. Mutters Anteilnahme ging dabei mit der Anzahl und der Wirkung ihrer Tabletten einher. All die folgenden Wochen verstrichen in einer Co-Existenz. Meinen langersehnten zwölften Geburtstag ertrug ich ohne Kerzen und Gesang und den Kuchen für die Kinder in meiner Klasse hatte ich selbst gebacken. Ja, ich liebte die Schule. Die Kinder dort und die Lehrer. Es war ein Ort, an dem ich für einige Stunden aufatmete, ein Platz, an dem ich Kind sein durfte. Ein Kind ohne Vater, aber immerhin Kind. Meist saß ich als Erster vor dem Klingeln im Klassenraum und nach Schulschluss war ich es, der als Letzter das Gelände verließ. Jeden Tag suchte ich nach neuen Wegen, die mir noch ein paar Minuten schenkten, bevor ich die Tür zu unserer Wohnung öffnete. Ob es regnete oder die Sonne schien, spielte für mich dabei keine Rolle, ich genoss jeden Millimeter Umweg.

 

Erst als die Mädchen in einen Kinderhort umgesiedelt wurden, in dem sie anfänglich nur tageweise, dann schließlich ganz verschwanden, entfesselte dies bei Mutter eine verlorengeglaubte Kraft. Zuerst hielten wir es für einen Zufall, dass sie früher wach war als wir. Doch seit dem Tag standen Teller mit beschmierten Broten auf dem Tisch, noch bevor mein Bruder und ich morgens die Küche betraten. Mutters Haare hatten zu einer Frisur zurückgefunden, Farbe wieder Einzug in ihr Gesicht erhalten. Sie duftete und von Tag zu Tag wirkte die Wohnung ein kleines bisschen aufgeräumter. Das Auffälligste jedoch: Ein Glanz war in ihre Augen zurückgekehrt. Ein völlig anderer als der vom vielen Weinen. Der neue Glanz hatte was von Zuversicht und nahm uns übriggebliebenen Jungen nach all den Monaten erstmals wieder fest in den Arm. Das war derselbe Tag, an dem auch ihr Lächeln zurückkehrte, an dem sie die letzten Wochen immer wieder geübt hatte. Der Tag, als sie morgens am Küchentisch saß, einen Tee in ihren Händen hielt und „Guten Morgen!“ sagte. 

Fortan kämpfte Mutter sich durch ungezählte Formulare, um die Familie wieder zusammenzubringen. Doch bis es soweit sein sollte, dünnte sich der Wandkalender. Die Motive wechselten und Mutter besuchte in dieser Zeit eine Vielzahl von Menschen, die sie stärken sollten und wollten und es auch taten. Sie nahm Termine wahr, arrangierte sich mit Rückschlägen und positionierte sich für erneute Anläufe. Bei all dem behielt sie den Glanz und auch ihr Lächeln. Selbst an den Tagen, an denen sie Vaters Grab aufsuchte, um die Blumen zu wechseln. 

 

Kurz vor dem Weihnachtsfest kamen die Mädchen zurück. Ihre Taschen waren voller als am Tag ihres Auszuges. Man erkannte sofort, sie hatten einen anderen Sommer erlebt. Es stand ihnen gut und während sie durch die Wohnung schritten, wurde uns allen wärmer. Die Idee, nach Kanada zu ziehen, war überraschend wie ein Zaubertrick. Zumindest für uns Kinder. Vater hatte das Grau ja schon immer gehasst. Wenn Mutter und er in ihren Gedanken um die Welt reisten, träumten sie von Freiheit und Farben. Sein größter Wunsch war es, in einem Haus am See zu leben. Ein Boot. Eine Angel. Dort sein Herz mit seiner Familie zu teilen. Morgens, vor der Arbeit, wenn er durch die matten Schlieren des Schlafzimmerfensters sah, so Mutter, wünschte er sich jeden Tag aufs Neue, auf einen Wald zu blicken, auf Felder, auf sattes Grün. Nicht auf Kräne, nicht auf Häuser und Wohnungen, die wie Käfige aussahen. All das erfuhren wir an jenem Abend von Mutter. Sie erzählte, als hätte sie ihre Worte all die Monate für diesen einen Abend aufgehoben. Wir versanken in ihren Erzählungen. Sie schwärmte von einer Zeit, als Vater und sie noch keine Speichen im Rad der Gesellschaft waren. Damals, als ihnen alles möglich erschien, zumindest in Gedanken. 

 

Trotz unseres Alters, vielleicht aber auch deswegen, sahen wir, dass sie den Verlust noch immer unter der Zunge trug. Doch es lag auch Zuversicht in ihrer Stimme. Sie legte eine Sprechpause ein, holte tief Luft und schwor uns darauf ein, alles auf eine Karte setzen zu wollen – bessergesagt auf fünf: Fünf Bordkarten für ein neues Leben, weg von all dem, das uns in der Zeit nach Vaters Tod zu Boden gedrückt hatte. 

An dem Abend schlossen wir diesen Pakt. 

Dort, wo wir hinzogen, wo im Winter der Schnee knirschte und im Sommer das Gras unter den Füßen kitzelte, hatte also unser neues Leben begonnen. Die Entscheidung war eine Befreiung! Erst nach Jahren zog es die Schwestern zum Studieren in die nahegelegene Hauptstadt. Gelockt von einem Hauch mehr Grau. Der Bruder ging nach Indianapolis. Ich dagegen blieb bei Mutter. Beim Haus, beim See. Ich angelte und hatte meine Bestimmung in der Gestaltung von Holz gefunden. - 5 - 

 

Jedes Jahr im Sommer treffen wir uns an diesem Fleck. Immer dann, wenn die Sonne am höchsten steht. Für die Dauer einer Woche bleibt die Zeit stehen und wir sitzen auf der Terrasse, schenken uns Getränke ein und berichten aus unseren Leben. Die Luft an jenen Tagen trägt den Geschmack der Jahreszeit. Am Ende greifen wir zu den Angelruten. Das Holz für das Boot habe ich eigenhändig geschlagen und das Gefährt hat mit den Jahren an Perfektion gewonnen. Es wartet unten am Steg. Aufgebockt und abgedeckt. Wie damals, als wir den Pakt schlossen, sehen wir uns an. Hören der Plane zu, wie sie über den Rumpf rutscht. Wir schultern das Boot und setzen es behutsam ins Wasser. Beim Einsteigen wackelt es und Ringe verteilen sich über die spiegelglatte Oberfläche. Dann lassen wir die Ruder langsam ins Wasser gleiten. Der erste Schlag gehört Mutter. Wir alle sitzen bei ihr: die beiden Schwestern, der Bruder und ich. Der zweite Schlag ist für Vater. Auf seinem Platz liegen Blumen, frisch gepflückt, die wir zur Mitte des Sees fahren werden, um sie gemeinsam zu verteilen. Dabei sehen wir den Fischen zu, wie sie neugierig nach den Blüten schnappen. Wir werfen die Ruten aus und genießen schweigend den Nachmittag. 

 

Vater hätte diesen Platz geliebt. 

thorsten@stadtschreiberin.de

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