top of page

Acerca de

Stadtschreiberin 2023: Christine Rainer

Wir freuen uns, dass die Stadtschreiberin Hamburg 2023 im gleichen Jahr das Hilde-Zach-Literaturstipendium gewonnen hat und gratulieren ganz herzlich!
Wenn man sich traut, einer Sprache auf den Grund zu gehen und sie immer wieder neu erfindet, b
leibt sie lebendig, überraschend und unerschöpflich! 
CR-Gewinn+.jpg
CR-GewinnText.jpg


Oben am See
läuft was aus dem ruder
ein boot fährt aus
ver
senkt einen wald
aus schweigen

1.

Der Salzstreuer liegt quer auf dem Tisch, daneben ruht ein spärlich behaarter Kopf. Auf den Salzkristallen machen sich Fliegen zu schaffen. Eine setzt sich auf die fettigen Haare. Eine

Zweite gesellt sich dazu, reibt sich die Vorderbeine. Die Uhr an der Wand tickt, das Holz im Ofen knackt. Bald wird das Wasser im Kessel kochen. Jemand wird kommen, den Kopf auf der Tischplatte sehen, wird sagen: „Ho, ho, warum schläfst du hier so gemütlich? Die Euter sind prall, die Kühe schreien wie verrückt!“ Er oder sie wird den Kessel vom Feuer ziehen, zum Tisch gehen, ihn rütteln, spüren, dass er sich trotz der warmen Küche kalt anfühlt. Die Fliegen werden sich aus dem Staub machen, sich auf den Vorhang setzen, abwarten was passiert. Aber noch ist es nicht soweit, noch wühlen die Fliegen in den Haaren, die Glut wärmt, die Uhr tickt. Ein friedliches Bild. Jesus schaut ungerührt vom Herrgottswinkel herunter. Ihn kann nichts erschüttern, er hat schon ganz anderes gesehen.

2

Es ist der Nachbar, der kommt. Sein uralter Schlepper streikt. Der Keilriemen ist gerissen.

Er steht ratlos an der schmalen Straße. Sonst ist hier nur schwacher Lärm von der Schnellstraße

zu hören, die ihren Schall die Hänge hochwirft, Vogelzwitschern, ab und zu ein Hahn, der sich

in der Zeit vertut, aber heute ist es laut. Kühe brüllen. Er schaut zum Wohnhaus hinauf. Aus

dem Kamin kommt Rauch. Sieht aus wie immer. Dann wird ihm plötzlich ganz heiß. Hat er

womöglich vergessen, dass er die Kühe melken soll, weil der Bauer auf die Messe fahren

wollte. Er denkt nach, aber sein Hirn fühlt sich leer an, bis auf einen leichten unangenehmen

Luftzug in seinem undichten Schädel. Er kann sich nicht erinnern. Er macht sich auf den

Weg. Er kennt sich aus, hilft öfters aus. Alle anderen haben längst das Weite gesucht, bis in

höchste Himmelsregionen. Während die Maschine die Euter leer pumpt, denkt er an die

Buben, wie sie früher schon vor der Schule in diesen Stall mussten, damit der Vater seinen

anderen Geschäften nachgehen konnte, wie sie gehänselt wurden, weil sie nach Ammoniak

stanken, direkt aus dem Stall in die Schule. Die väterlichen Schläge haben auch nicht

geholfen. Die Mutter hat gebetet, glorreiche, schmerzhafte, dornenreiche Rosenkranzperlen

sind durch ihre Hände gekrochen. Sie hat versprochen, dass ihnen im Himmelreich alles

vergolten wird. Sie war eine schöne Frau, am Anfang. Bei der Geburt des vierten Kindes wäre

sie beinahe gestorben, das fünfte Kind hat schon nach drei Monaten Reißaus genommen. Ein

kleiner weißer Sarg an einem heißen Sommertag verschwand in der staubigen Friedhofserde

samt dem Verstand der Mutter. Sie ist der Kleinen bald hinterhergeflattert.

Er leert die letzte Milch in den großen Kühlcontainer. Die Kühe liegen erschöpft auf ihren

Plätzen. Er sieht zum Wohnhaus hinauf, alles ruhig. Er geht hinten durch die Werkstatt

hinaus, stutzt. Da hängt doch tatsächlich ein Keilriemen an der Wand. Der dürfte passen.

Kurz denkt er an die Flinte im Küchenschrank beim Bauern oben, aber er wird im Tal gleich

einen Neuen besorgen. Er wird gar nichts bemerken. Seine steifen Finger tun sich schwer

beim Einfädeln, aber der Riemen passt, der Schlepper lässt sich anstandslos starten. Er fährt,

hofft, dass er das Richtige getan hat. Am späten Nachmittag kommt er wieder, melkt die

Kühe, füllt den Container. Es ist schon dunkel. Am Heimweg rast ein Auto an ihm vorbei. Er

hätte schwören können, ein Polizeiauto. Sicher ist er nicht, nachts sieht er nicht mehr so gut,

aber das muss ja niemand wissen.

3

Der Mond steigt ungewöhnlich früh auf, beleuchtet einen Zahn, der auf der nass glänzenden

Straße liegt. Otto geht diese Straße entlang. Otto ist spät dran, wie immer. Er wartet bis alle

Kinder aus der Schule sind. Er hat ein gutes Versteck in der Besenkammer. So entgeht er

zumindest am Heimweg den Beleidigungen, den Zotteleien, den Boxereien. Es ist spät.

Mama wird murmeln: „immer diese Bummelei“. Dabei kommt sie selbst oft spät, weil sie nach

der Arbeit noch schnell dieses und jenes macht, einkaufen oder irgendwo noch Bügelw.sche

holt, um noch was dazu zu verdienen. Das zugige Haus frisst in der kalten Jahreszeit

unfassbare Mengen an Energie, um einigermaßen warm zu werden, ständig wird wie von

Geisterhand etwas kaputt. Otto ist auch ganz schön kostspielig, wächst ständig aus allem

raus, nie in dieses Dorf rein. Er sieht die Mutter seufzen. Ihr Gehalt als Krankenpflegerin

reicht meist nicht bis zum Monatsende. Otto denkt darüber nach, wie er selbst zu Geld

kommen könnte, über einen Banküberfall oder besser... Mitten in einem fantastischen

Tankstellenüberfall schaut er auf den Zahn, der mitten auf der Straße liegt. Er sieht sich um,

weit und breit niemand zu sehen. Er nähert sich dem Zahn, umkreist ihn. Sieht aus wie einer

seiner Milchzähne, die seine Mutter aufgehoben hat, nur größer. Ein bisschen ekelt es ihn,

aber dann ist die Neugier doch stärker. Er hebt ihn auf, geht zur Straßenlaterne und sieht ihn

sich an. Blut klebt am Zahn, eher frisch, aber vielleicht wirkt es auch nur so, weil es geregnet

hat. Er nimmt ein zerknülltes Taschentuch aus seiner Jackentasche und wickelt den Zahn ein.

4

Oben am See hat einer einen groben Fehler gemacht. Statt die Schleusen wieder zu

schließen hat er sie weit aufgemacht. Ein großer Schwall ergießt sich in den Bach, reißt alles

in seiner Nähe mit sich. Er kann nur hoffen, dass er nicht zu viel angerichtet hat und dass

keiner Rückschlüsse zieht. Eigentlich ist es Miras Schuld. Per SMS schreibt sie ihm, dass

Schluss ist, endgültig. Wie hätte er da die Nerven bewahren, den Schnaps im Schrank lassen

können. Er muss Geri anrufen. Er wird ihm helfen.

5

Geri wollte nie Polizist werden. Sein Vater war Postenkommandant im Ort und es war klar,

dass er sein Nachfolger wird. Nicht für ihn, nur für alle anderen. Der Typ vom Kraftwerk hat

wieder irgendeinen Mist gebaut, dem war er noch was schuldig, für die Sache, die er für ihn

im See versenkt hat. Wahrscheinlich ist wieder etwas zu vertuschen. Darin hat er langsam

Übung. Er rast die Landstraße entlang, schaut noch einmal auf die Nachricht. Da knallt es

plötzlich. „Scheiße!“, fluchte er, denkt an ein Reh, dass ihm sicher seine Stoßstange verbeult

hat. Er schaut in den Rückspiegel. Die leere Straße glänzt im Rot des Rücklichts. Er wird das

später erledigen, liegt sicher im Straßengraben. Der Typ im Kraftwerk ist ganz aufgelöst und

alles andere als nüchtern. Er denkt nach. Sie beschließen ein technisches Gebrechen zu

inszenieren, um den eigentlichen Fehler zu vertuschen. Er packt den aufgelösten Typen ein,

bringt ihn nach Hause. Bambi kann er morgen auch noch bergen, vielleicht ist das dumme

Reh ohnehin im Wald verschwunden, dort längst verendet. Morgen wird er das Auto zu Charly

stellen. Der wird alles schweigend ausbügeln, wie immer.

6

Vor dem Heimdienst macht Mira täglich ihre Runde durch die Gemeinde, wechselt Verbände,

kontrolliert Medikamente, redet gut zu. Heute muss sie auch zum Alten hinauf. Es graut ihr

schon. Er hätte ihr was Wichtiges zu sagen. Die Haustür ist offen, es riecht nicht gut, eine

Mischung aus Moder und vergammelten Kartoffeln. Er sitzt in der Küche, salzt gerade ein Ei.

Sie bleibt im Türstock stehen. Er grinst. Das kann nichts Gutes heißen. „Es ist jetzt verjährt!“

sagt er. „Du kannst mir nichts mehr anhaben!“ Sie wird blass. Sie weiß nicht, ob er recht hat.

„Aha“, sagt sie nur, „So ist das also, war das alles?“ „Wenn du schon da bist, kannst du mir

doch meine Spritze geben, ein letztes Mal.“ Er grinst überlegen. Sie lächelt milde, stellt ihre

Tasche auf die Anrichte, macht sie auf, nimmt eine Spritze, eine Ampulle. Sie schüttelt das

dünne Glas, bricht es an der Spitze. Es gibt einen leisen Knacks. Sie zieht die klare

Flüssigkeit auf. Er zieht sein dreckiges Hemd hoch. Die häufigen Einstiche haben die faltige

Haut verunstaltet. Sie verstaut ihre Utensilien sorgsam. Er reißt plötzlich die Augen auf, hält

sich an der Tischkante fest. Der Kopf knallt auf die Platte. Der Salzstreuer fällt um. Sie schaut

sich in der Küche um, schaut auf das Foto der Mutter, lächelt ihr zu. Mutter lächelt zurück,

zwinkert. Sie hat nichts liegen gelassen und er ist nicht im Dienstplan eingetragen. Sie staunt

über sich selbst, wie ruhig sie ist. Sie schreibt eine SMS, die sie schon längst hätte schreiben

sollen. Am Rückweg kommt ihr niemand entgegen. Sie besucht die erste Patientin laut

Dienstplan, wechselt sorgsam den Verband am offenen Bein. Nach dem langen Dienst geht

sie zu Fuß nach Hause, um einen klaren Kopf zu bekommen. Die Sonne ist hinter den

Bergen verschwunden, ein kalter Wind kommt auf. Es wird schnell dunkel. Gedankenverloren

quert sie die Straße. Sie sieht das Auto nicht, das auf sie zukommt.

  • Facebook
  • Twitter
  • LinkedIn
  • Instagram
Thanks for submitting!
bottom of page