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Heavy dance partners

Democracy is a heavy dance partner, sagt Jim und trinkt sein Glas Rotwein leer. Ich habe ihm gerade erzählt, dass ich auf dem Museumsvorplatz in Harburg ein Konzert organisieren möchte. Aber das einfach so zu entscheiden geht nicht, ich muss Anträge stellen und alle Beteiligten fragen. Jim lacht und bestellt sich ein weiteres Glas.


Ich habe ihn in der Helms-Lounge getroffen, nachdem ich mir mit einigen Künstlern das Theater angeschaut habe. Jim wohnt in London und ist Fotograf. Er reist durch Hafenstädte, fotografiert alte Schiffe. In Hamburg hat er bis jetzt nicht die Aufnahmen machen können, die er sich vorgestellt hatte. Ihm fehlte das Rohe, der Wind, die Wellen, der Rost, der Teer. Er findet die Stadt so very american. Ich sehe erschrocken um mich, ob jemand das gehört hat. Disneyworld Hamburg? Diese Behauptung geht mir zu weit, aber ich weiß, wie er es meint. Ich flüstere ihm zu, es ist wie mit den Zähnen. Man kann sich für amerikanische entscheiden, regelmäßig, groß und sehr weiß, oder man erträgt europäische Zähne, die interessanter sind. Er lacht laut auf. British teethtime.


Er hatte sich entschieden, die Ausstellung “Burgen in Hamburg” zu besuchen, im Archäologischen Museum, um sich ein Bild davon zu machen, wie Hamburg überhaupt entstanden ist. Wie die Stadt sich zusammensetzt, was hier am Anfang war. Fasziniert erzählt er von den Ausstellungsstücken, von der klaren Darstellung der Geschichte, den großartigen Bildern der Stadt, von den Handelsrouten, die sich schon im 9. Jahrhundert durch ganz Europa erstreckten. Das habe man anhand von Gesteinsfunden feststellen können. Basalt-Mühlsteine aus der Eifel, denke ich. Aber ich schweige, woher soll Jim die Eifel kennen.

Gustave Eiffel wurde ja nur so genannt, weil seine Vorfahren aus der Eifel kamen und die Franzosen den Namen Bonickhausen nicht aussprechen konnten.


Lass uns mal überlegen, womit ich mich selbstständig machen könnte, sagte Anja, als wir letzte Woche durch die Felder der Eifel spazierten. Sie war müde, hatte gerade Corona überstanden und war noch krankgeschrieben. Eigentlich arbeitet sie an einer Schule. Aber sie konnte kaum auf den Beinen stehen. Spazieren gehen ging so gerade. Nur nicht zu lange. Überhaupt die Schule. Viel lieber wäre sie selbstständig.


Du könntest ein Geschäft mit invasiven Arten aufmachen, schlug ich vor. Du arbeitest ganz nah mit dem Naturschutzbund zusammen, und alles, was sich invasiv verbreitet, wird gefangen und verarbeitet. Pesto von der Schmalblättrigen Wasserpest. Wildschweinpastete. Flusskrebscocktail. Irgendetwas mit einer Schwarzmundgrundel.


Mann müsste es nur schaffen, etwas sehr kurzfristig zu einem Trend zu machen. Wenn man genügend Follower hat, hat sich das Problem schnell gelöst, die Natur kann sich erholen und man verdient Geld damit.

Das Corona-Virus, flüsterte Anja, das ist doch auch invasiv? Wir blieben stehen und schauten uns an. Mit Covid-19 wollten wir keinen Handel treiben, wir nicht. Dann vielleicht ein Call-Zentrum, oder Einkaufshilfe für Senioren. Chemie- und Politik-Nachhilfe für Jugendliche. Theater, Tanz. Ein Vintage-Laden. Ein Hanf-Laden mit Zubehör.


Eine Selbstständigkeit in Deutschland. Das bedeutet Liebhaberei fürs Finanzamt, Kühlkettenunterbrechung fürs Gesundheitsamt, Beitragspflicht für die Krankenkasse, Betriebshaftpflicht für die Versicherung, eine abstrakt-typologische Täterklassifizierung fürs Betäubungsmittelgesetz – bis zu zehn Jahre Haftstrafe –, Parkplatzgewährleistung fürs Ordnungsamt. Man soll nicht einfach so daher kommen und irgendetwas Unkontrolliertes tun. Es könnte ja mal etwas passieren.



Am Tag nachdem wir uns im Museum getroffen haben, habe ich mich mit Jim an der Kulturwerkstatt verabredet. Hier wird die neue Stadtschreiberin den Monat August verbringen, hier wird ihr Schreibtisch stehen. Er ist außer sich vor Freude, sieht endlich die Motive, die er braucht. Wir besuchen zuerst das alte Kontorhaus, mit Kapitänszimmer und Blick auf die Schiffe. Dann die Werft, die alten Hafenkräne. Wir laufen zum Jugendbildungszentrum JiA, wo man eine Ausbildung zur Bootsbauerin machen kann. Wir sprechen mit einem Ausbilder, er hat faszinierend schiefe Zähne und führt uns über das Gelände. Jim fotografiert begeistert die Schiffsteile, die Arbeit, er fängt den Geruch von Holz, Öl und Metall ein, sagt er. Ich glaube das.


Wann passiert denn endlich was?, frage ich Jim. Wir leben in einer Demokratie, alles ist möglich, die Türen stehen einem auf. Aber immer mehr Personen werden mit einer Administrationsaversion diagnostiziert, berichtet er. I beg your pardon? fragt Jim.


Nach unserem Rundgang durch den Harburger Hafen bekomme ich wieder Lust und Mut. Ich werde mich gleich an die Arbeit machen. Veranstaltungen müssen organisiert werden, Künstler engagiert, die Gelder beantragt. Das großartige Team der Kulturwerkstatt kümmert sich um die Buchhaltung, was das Gewicht des Eiffelturms von mir nimmt.


Ich denke wieder an das Bild von der schwerfälligen Tanzpartnerin namens Demokratie. Was ist sie eigentlich? Wenn man versucht, sie den Menschen aufzuzwingen, geht es schief, wie bei den misslungenen Demokratien in Somalia oder Afghanistan. Vielleicht gibt es eine halbwegs gelingende in Pakistan. Russland? Never, sagt Jim. Man braucht einen blühenden Handel, der für starke Bürger sorgt, man braucht vor allem Freiheit, sonst kann sie nicht aufkeimen.


German administration is a heavy dance partner too, versuche ich. Die ganzen Ideen, die Kreativität, der Tatendrang, vieles wird schnell unter den Teppich der Ordentlichkeit gekehrt. Nichts Unvorhersehbares soll passieren. Nichts Unkontrollierbares. Was nicht eingeordnet werden kann, zählt nicht mit, was nicht perfekt ist, macht Angst. Zeig mal deine Zähne, Jim.


A heavy dance partner is better than no dance, verabschiedet sich Jim grinsend. Keep trying. Nicht jeder kann sofort gut tanzen. Aber es lohnt sich, es immer wieder zu versuchen.




https://kulturwerkstatt-harburg.de/

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