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Langweilen Sie sich. Jetzt!

Waterloo. Sonntag, dem 18. Juni 1815.

Wissen sie, was Waterloo heißt? Water ist Wasser, Loo ist ein Name für Wald, und zwar für einen Laubwald, in dem die Menschen gut leben können, weil es dort Lichtungen für Vieh gibt.

Es gab die große Schlacht bei Waterloo.

Napoleon war gerade 100 Tage wieder von der Insel Elba zurück. Er hatte Elba nach dem Vertrag von Fontainebleau für sein Exil ausgewählt und den 10.000 Untertanen dort, über die er regieren durfte, mehr Reformen gebracht als jemals ein Herrscher zuvor, er hatte die Insel unter einer einzigen Fahne vereinigt. Heutzutage gehört Elba nicht mehr zu Frankreich sondern zu der Toskana und es gibt dort keine richtige Einheit mehr, sondern 7 einzelne Provinzen.

Als Napoleon Elba wieder verließ, war er noch kurz französischer Kaiser, genau 100 Tage lang. Dann kam die Schlacht bei Waterloo, 15 km südlich von Brüssel. Er wurde unter anderem vom Herzog von Wellington und Gebhard von Blücher geschlagen, es bedeutete die komplette Niederlage für ihn.

Niederlage und Untergang passt gut zu diesem Monat. Ich war mit Christiane und Joachim auf dem Friedhof in Ohlsdorf, es wehte ein eisiger Nordostwind und es war fast nicht auszuhalten. Aber der größte Parkfriedhof der Welt ist ein guter Ort, um sich mit der Endlichkeit des Lebens zu beschäftigen. „Alle 11 Minuten verliebt sich ein Single über Parship“ verspricht uns eine schöne Frau auf einem Plakat am Friedhofseingang.

Als wir uns später im Museumsschiff Övelgönne wieder aufwärmen und Earl Grey Tee trinken, denke ich an die Zeitschrift einer Krankenkasse mit der Ankündigung: Mut zur Langeweile, zum Müßiggang, zum bewussten Leben. Mir wird schlecht davon. Denn jeder weiß, dass es gerade nicht der Monat ist, in dem man sich langweilen wird, die Tage sind dafür einfach zu kurz. Die Jahresabschlüsse müssen geschrieben werden, die letzten Aufträge noch reingeholt, Resultate müssen erreicht werden, sowohl auf der Arbeit wie bei der Partnersuche, zumal man hier nur 11 Minuten hat. Geschenke gekauft, essen geplant, Einladungen ausgesprochen, Häuser dekoriert. Kinder sind auch keine Hilfe, wie man weiß. „Hast du denn in der Kita kein Abendessen bekommen?“ so die Mutter, die in den Bücherhallen ihr quengelndes vierjähriges Kind an der Hand mitzieht.

Aber die Krankenkasse meint vorsorglich, wir sollten uns jetzt langweilen und einfach nichts tun, dabei die Beziehungen zum Partner und zu den Kindern pflegen. Langweilen Sie sich! Jetzt! Lange bleibt die Zeitschrift dann aber doch nicht in der Spur. Auf der Rückseite des Magazins steht nämlich „holen Sie sich einen Fitnesstracker“! Den bekommt man, wenn man Mitglieder wirbt. Ich dachte, wir sollten uns ausruhen?

Ich frage mich, ob man die Mitglieder auch im Müßiggang werben kann. Und ja, das müsste möglich sein, keiner hat hier von Arbeit geredet. Wenn Sie ein potentielles neues Mitglied der Krankenkasse ins Bett kriegen um ihn zu werben, seien Sie jedoch vorsichtig, hier ist eine gewisse Geschicktheit angebracht. Seien Sie am besten nicht zu gelangweilt.

Das Problem bei der ganzen Sache ist, man bekommt dann einen Fitnesstracker verpasst. Ich möchte nicht wissen, wieso die Krankenkassen möchten, dass wir unsere Fitness, Schlaf- und Essgewohnheiten aufzeichnen lassen. Es gibt nichts, was den Druck auf einer subtilen, fast unmerkbaren Art so erhöht als diese Bereitschaft zur Selbstkontrolle.

Dabei gibt es viele gesellige Alternativen zur Langeweile. Es gibt schiffsgebackenen Kuchen auf dem Boot in Övelgönne. Wir trinken einen Tee, der Kellner ist eloquent und gutgelaunt, wir bringen dem Pförtner, der draußen im Parkhäuschen sitzt, einen Glühwein, sein Gesicht leuchtet vor Freude auf.

Es ist doch klar. Sich zuhause ins Bett legen und langweilen ist nicht die Lösung, das kann sogar depressiv machen. Es gibt Menschen genug um Sie herum, die Sie brauchen. Es gibt Kinder, die angesprochen werden wollen, vielleicht wohnen sie sogar unter Ihrem Dach. Schalten Sie mal das WLAN aus, Sie werden sich wundern, wer so alles aus den entferntesten Ecken der Wohnung hervorkommt. Die wohnen alle bei Ihnen.

Was würden Sie am liebsten machen? Was fehlt noch im Leben? Kreativ sein. Das höre ich oft, wenn ich hier so in den Bücherhallen sitze. Immer wieder kommen Menschen zu mir, die meinen, sie würden gerne etwas schreiben. Sie würden gerne Geschichten erzählen. Fangen Sie an! Lassen Sie sich zu Weihnachten ein Handy-Schließfach schenken, das Sie mit einem Zeitschloss versehen, so dass Sie eine garantierte Zeit ohne funktionieren müssen. Das ist schwer am Anfang, man fühlt sich wie behindert, aber es lohnt sich, die Kreativität merkt sofort, dass sie eine Chance bekommt und sie wird wachsen. Sie lassen sich wieder auf andere Leute ein, Sie hören besser zu, und was Sie antworten macht plötzlich wieder Sinn. Sie sind konzentriert und kreativ.

Es geht um echte Kreativität, um die analoge. Natürlich hat jeder schon längst seine eigene Welt geschaffen, mit eigener Musik auf direktem Weg in die Ohren. Man hat seine eigene Apps, eigene Tracker, eigenes Design, eigene Töne, das Büro immer dabei. Man kann ruhig Selbstgespräche führen, sie sind ganz normal jetzt, denn es könnte ja immer noch sein, dass man telefoniert. Aber ist das wirklich kreativ?

Die Universität Harburg hat eine Partnerschaft mit der Waterloo Universität in Kanada. In dieser Uni hat der junge Professor Avery Broderick dazu beigetragen, die erste Fotoaufnahme von einem schwarzen Loch zu machen. Im April dieses Jahres haben wir das zu sehen bekommen, erinnern Sie sich? Ein schwarzes Loch, keine Materie kann noch rein oder raus. Ein absolutes Nichts. Ein Handy-Schließfach ist ein guter Anfang.

Napoleon wurde auf die abgelegene Insel im Südpazifik Santa Helena verbannt. Diese kleine Insel von gerade mal 120 Quadratkilometer liegt zwischen Südamerika (mehr als 3.000 km entfernt) und Afrika (fast 2.000 km). Er hatte dort kaum Menschen um sich.

Nach 6 Jahren ist der große Kaiser und brillante Stratege dort vor Langeweile gestorben.

Nicht nur Napoleon fand auf dieser Insel sein Ende, auch der Riesenohrwurm von Santa Helena ist gerade offiziell ausgestorben. Das war nicht vor Langeweile, er wurde von nicht-einheimischen Tieren, die dort eingeschleppt wurden, gefressen.

Wenn man sich das anhört, lernt man: Langeweile ist tödlich. Sie sollten zusehen, dass Sie Ihre sozialen Kontakte pflegen und sich mit Leuten umgeben, die Ihnen gut tun. Sorgen Sie dafür, dass Sie sich auf eine kreative Art unterhalten können. Schaffen Sie Platz für Ihre Ideen, so dass diese sich verwirklichen können.

Weiter lernen wir, dass illegale Einwanderer die einheimische Bevölkerung auffressen. Das muss dann unbedingt mit zum Stammtisch genommen werden, es gibt bestimmt Anhänger dieser Idee. Es wird ein Verein gegründet, zum Schutz der einheimischen Arteneinfalt, die man mit Jagdgewehren und Parolen verteidigen muss.

Im Vergleich zu den Mitgliedern eines solchen Stammtisches war das Gehirn eines Riesenohrwurms einfach riesig. Schade, dass er ausgestorben ist, dieses intelligente Tier.

Gehen Sie in die Welt hinaus, mit offenen Augen und einem wachsamen Geist, mit kritischem Urteilsvermögen und einer guten Portion gesunden Menschenverstandes. Denn wo Sie auch sind, Sie werden sehen, schwarze Löcher gibt es tatsächlich.

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