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Überhaupt die Liebe

Die Geschichte, mit der ich 2019 das Stipendium Hamburger Gast gewonnen hatte, handelt unter anderem von einem Aal.

Träge und allwissend ist er durch den Schlamm eines Binnengewässers mitten in der Stadt geschwommen. Jahrelang hat er still beobachtet, was in der Stadt passiert. Er musste aufpassen, dass er nicht gefangen wurde und mit Aprikosen und Backpflaumen in die Suppe landete, denn er war schon einige Zeit in Europa und hatte sich bereits viel Fett angefressen. Er hatte aber noch einiges mit seinem Leben vor, er wollte noch eine Fernreise machen und sich fortpflanzen, bevor er sterben würde.

Wenn er an einer natürlichen Todesursache stirbt, stirbt ein Aal nie fettleibig. Auch wenn es Zeiten gibt, an denen 30 Prozent seines Körpergewichts pures Fett ist, verendet er immer erschöpft und ausgehungert nach dem Sex in den Bahamas.

Viele Jahrhunderte lang haben die Menschen gerätselt, wo der Aal herkam. Aristoteles behauptete, er wurde aus Schlamm geboren. Inzwischen wissen wir, dass in den Bahamas sein Leben anfängt. Von dort aus schwimmt er als Larve Richtung Europa, er lässt sich nicht nur passiv vom Golfstrom treiben, wie manche unverschämterweise behaupten. Nach einer Reise von etwa drei Jahren kommen die Larven in Europa an, verändern sich in Aal und wechseln vom Salzwasser ins Süßwasser. Durch die Flüsse schwimmen sie in die Binnengewässer hinein, wo sie weiter wachsen und sich entwickeln, sie werden bis zu 6 Kilo schwer.

Und dann geschieht das Unglaubliche: Nach einigen fetten und trägen Jahren in Europa machen sie sich auf den Weg zurück zu ihrem Geburtsort. Sie schwimmen wieder durch die Flüsse in das Meer hinein und gegen den Golfstrom zurück in die Bahamas. Diese Reise von 5.000 Kilometern unternehmen sie, ohne zu fressen. Sie leben vom Eigenfett, das sie sich in Europa zugelegt haben. Wenn sie an ihrem Geburtsort angekommen sind, hat sich der Verdauungstrakt komplett zurückgebildet. Der Geschlechtstrakt bildet sich zugleich aus, die Aale paaren sich. Niemand hat jemals beobachten können, wie das genau geht. Es ist eins der unerforschten Geheimnisse der Natur, das vielleicht nie entschlüsselt wird.

Es soll sich jedoch lohnen, denn wieso sonst nimmt man so eine lange und anstrengende Reise auf sich. Der Laich wird in ca. 2.000 Metern Tiefe abgelegt, die Tiere haben nun die letzten Kräfte aufgebraucht und sterben. Die neuen Larven schlüpfen, richten sich, wie die Generationen vor ihnen, nach dem Erdmagnetismus und nehmen die Reise Richtung Europa auf.

In Gefangenschaft kann ein Aal bis weit über 100 Jahre alt werden. Er ist dann besonnen, träge und ohne Geschlechtsorgane unterwegs, ernährt sich von Würmern und Schnecken. Ob das der Schlüssel zu einem langen Leben ist?

Der berühmte Fischmarkt von St. Pauli darf ab Ende Oktober wieder öffnen. Um die Gefahr der Corona-Pandemie einzudämmen, darf jedoch nicht laut herumgeschrien werden, Dieter! Die betrunkenen Pinneberger und Nachtschwärmer der Reeperbahn und des Schanzenviertels sollen entmutigt werden, bei Tagesanbruch zum Fischmarkt zu torkeln und sich dort zu versammeln, es darf kein unübersichtliches Chaos entstehen.

Der Fischmarkt darf demnächst am Sonntagmorgen also nur von 11:00 Uhr bis 15:00 Uhr stattfinden, entscheidet die Bezirksleiterin. Ein politisch korrekter Fischmarkt soll es werden, die Besucher sollen dort, Kaffee und Kuchen mit Abstand zu sich nehmen.

Die Aale sind bedroht, sie sind dabei auszusterben. Die Weltmeere sind verschmutzt, und die Überfischung findet ca. 100 km vor Europas Küsten statt. Die ankommenden Jungtiere haben die lange Reise geschafft und entwickeln sich dort von Larven in Glasaale, sie machen sich bereit, das Salzwasser zu verlassen. In dieser Phase werden sie als Delikatesse betrachtet, sie laufen große Gefahr, eingefangen und nach Asien abtransportiert zu werden.

Wir werden vielleicht nie herausfinden, wie sie sich paaren. Aber sie werden sich immer wieder auf die Reise machen, sie werden zweimal im Leben die unfassbaren 5.000 Kilometer auf sich nehmen, die Hinreise als Larve und die Rückreise als ausgewachsenes Tier. Nur um sich zu lieben.

Und die Menschen? Mit Kontaktsperre und Mundschutz ist es nicht einfach, sich kennenzulernen. Bei Kaffee und Kuchen gelingt es oft nicht, die zwischenmenschliche Hürde zu überwinden. Wir werden uns etwas einfallen lassen müssen.

Wir sitzen um die Mittagszeit nachdenklich auf dem Fischmarkt mit Sicht auf die Elbe, an desinfizierten Tischen. Wir lassen hoffnungsvoll all unsere Daten dort, Name, Telefonnummer, verfügbare Zeiten. Wir unterhalten uns hinter der Maske, lächeln vielleicht, oder sind das doch nur die Falten?

Wir träumen von Fernreisen, vielleicht in die Karibik, wir träumen von Sportevents, fit sein, Fett abbauen, ein fernes Ziel setzen und etwas dafür tun, überhaupt wieder Ziele haben zu dürfen. Wir träumen von der Liebe, wir träumen einfach so vor uns hin.

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