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Sessibon

Sessibon


Die alleinerziehende Amselmutter, die ein Nest ins Gartenhaus gebaut hat, muss die Eier ab und zu verlassen, damit sie etwas zu essen suchen kann. Es sind vier Eier, hellgrün, in einem perfekt gebauten Ökohaus. Aber ist es nicht ein bisschen früh, jetzt schon zu brüten? Es ist erst Anfang April, sind die Vögel nicht erst im Mai dran?


Am Ostersonntag fahre ich zu meinen Eltern, sie wohnen in Flandern. Es wurde eine halbherzige Ausgangssperre verhängt, von touristischen Fahrten wird dringend abgeraten. Eine Fahrt darf man grundsätzlich machen, sie darf nur nicht zu touristischen Zwecken stattfinden und keinen Spaß machen. Ich versuche, grimmig zu gucken, während ich über drei Landesgrenzen fahre. Eine ausgedruckte und unterschriebene Reisebescheinigung sowie der tagesaktuelle negative Corona-Test begleiten mich.


Bei der Autobahnausfahrt steht ein Haus, das Sessibon heißt.

Dieser Namen hat sich in letzter Zeit häufig geändert. Das Haus steht schon lange da, es hat die gleiche müde Ausstrahlung wie die anderen Häuser entlang der Straße. Es ist etwas heruntergekommen, auf den ersten Blick langweilig. Auf den zweiten auch, die bunte Leuchtreklame im Fenster ändert das nicht. Man kann dort Zimmer mieten.


Kamers, lese ich. Es ist erst der dritte Blick, der mir klar macht, was der Name bedeutet. Sobald ich verstehe, was ich dort gelesen habe, kann ich nicht mehr grimmig gucken. Ich muss lachen. C’est si bon, es ist so gut. Oder vielleicht eher noch es tut so gut? Ich fahre durchs Dorf, lasse es hinter mir, die Häuser werden immer weniger. Das Aprillicht ist frisch und ganz klar, der Horizont zeichnet sich scharf ab, die hügelige Landschaft mit den Obstbäumen ist weit und ruhig.

Einige Kilometer weiter steht ein Sackgassenschild. Ich lasse mich nicht beirren, fahre weiter, auch wenn das Schild sich noch einige Male wiederholt. Es ist der einzige Weg zu meinem Elternhaus. Man kann grundsätzlich auch von der anderen Seite anfahren, aber dort ist die Straße schon seit einigen Monaten komplett gesperrt.


Nach der letzten Kurve vor meinem Ziel steht ein riesiger Baukran mitten auf der schmalen Straße, es wird ein Haus abgerissen an diesem Ostersonntag. Hier kommt keiner vorbei. Ich halte an, hole die Gummistiefel aus dem Kofferraum, ziehe sie an, gehe zu den Bauarbeitern, frage, wer hier baut und wieso. Sie sagen nicht viel, haben gerade Kaffeepause. Der Kranführer läuft mit mir zur Straße, klettert in den Kran, fährt die Stützen ein und setzt den Kran beiseite.


Ich sitze mit den Eltern draußen, es weht ein kalter Nordwind, aber auf der Südseite des Hauses geht es so gerade. Es gibt Porree aus dem Garten. Die Kartoffeln sind vom letzten Jahr, die Eltern haben heute Morgen neue gepflanzt. So wie sie früher Ostereier versteckt haben, verstecken sie jetzt Kartoffeln, das sei nachhaltiger, meint meine Mutter schulterzuckend.

Sessibon, sage ich.

Wo soll man sonst hin?, antwortet Roger, ein Freund meiner Eltern. Er ist ums Haus gelaufen, hat einen Blaumann an, weil er gerade in der Werkstatt die Sommerreifen aufgezogen hat. Viel zu früh, meint mein Vater, es kommt noch Schnee. Roger wischt sich die Hände ab.

Wenn man sich treffen will und alle Cafés zuhaben, könne man bei Sessibon wenigstens ein Zimmer mieten, meint er. Mit oder ohne Dusche. Vier Stunden, statt wie üblich drei. Bestimmt ein Corona-Rabatt. Hans und Wilma, die Gastgeber, seien sehr nett und freuten sich über jeden Besuch.


Einen Tag später sind die Amselkinder geschlüpft. Es fängt zu schneien an, die Mutter fliegt nur selten weg, die Kleinen haben noch keine Federn, nur ein bisschen Flaum. Ich mache mir Gedanken, wie sie überleben werden, bemerke, wie ich eingreifen will, und wie falsch das wäre. Ich stelle Apfelscheiben, Brot und Wasser ins Gartenhaus, weiß, dass ich mich nicht einmischen sollte.



Aber nach einer Weile sehe ich, wie ein Amselmännchen angeflogen kommt, den Schnabel voller Regenwürmer. Er kennt den Eingang unterm Dach. Aha. Das ist bestimmt einer vom Sozialamt, der alleinerziehende Mütter unterstützt. Ich sitze im Arbeitszimmer, schreibe Anträge für Förderungen für mein Projekt Stadtschreiberin und beobachte, wie der Sozialarbeiter fleißig hin und her fliegt. Hoffentlich hat er es nicht nur auf die Äpfel und das Brot abgesehen.


Am späten Nachmittag sehe ich mir das Nest noch mal an. Die Mutter ist weg, der Sozialarbeiter auch, die Kinder liegen alleine, unbeweglich und nackt im Nest. Jetzt muss ich mich zwingen, sie in Ruhe zu lassen. Ich brauche keine Daunendecke zu holen, keinen Föhn. Dort ist die Natur und hier bin ich, die nichts davon weiß. Schnell schließe ich die Tür wieder und hoffe, dass sich das von alleine regelt.



Die Amselmutter heißt Wilma, entscheide ich jetzt, der Betreuer Hans. Ich brauche Abstand, sie sind erwachsen, sie wissen, was sie tun. Ostern hat nichts mit Nestern oder Eiern oder Küken zu tun, Ostern ist dafür da, Häuser abzureißen, Kartoffeln zu pflanzen und Sommerreifen aufzuziehen. Im Nordwind auszuharren.

Ich mache eine Flasche Rotwein auf, sitze am Kamin, sehe das Schneegestöber vor dem Fenster und sage ganz leise: Sessibon...




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