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Schöne Aussichten

Day drinking is way better than night drinking, zitiert Sophie eine Instagram-Bekanntschaft, während wir durch den Regen und gegen den starken Westwind stapfen. Ich überlege das. Es geht hier natürlich nicht darum, tagsüber alleine Alkohol zu trinken, wie es in diesen Lockdown-Zeiten schon mal passiert, das ist nicht zu empfehlen. Es geht um ausgehen, um tanzen, Party. Tagsüber. Nun ja, das leuchtet mir ein.


Man braucht nicht bis zur Dunkelheit zu warten, bis es losgeht, man ist noch fit, kann sich mit Freunden unterhalten, Spaß haben, und wenn man dann irgendwann nach Hause torkelt, ist es immer noch hell, die Nacht hat noch nicht angefangen, viele Möglichkeiten tun sich auf. Wen nehme ich mit nach Hause? Essen wir noch etwas zusammen? Nicht den absurd fettigen Döner der Nacht, sondern ein normales Abendessen. Schlafe ich alleine? Oder mit meinem Tanzpartner? Mit welchem? Es ist noch nicht ganz dunkel, ich kann ihn noch erkennen, wir haben nicht nur die zwei schweren Stunden bis zum Kaffee, sondern eine ganze Nacht, ohne Bauchkrämpfe vom Schnellimbiss, ohne Zaziki-Mundgeruch. Jetzt können wir uns richtig kennenlernen. Wir können reden, bis die Sonne aufgeht.

Sapiosexuell, sagt Sophie.


Ich schaue im Internet, was auf deutschen Websites über daydrinking berichtet wird, vielleicht gibt es Hinweise, wo man dafür hingehen kann. Zum Tanztee, meint Renate, die 78-jährige Klavierlehrerin, jeden Sonntag ab 15 Uhr in den Kurparkterrassen. Dort trinke man Sekt, keinen Tee, das heißt ja nur so. Man esse natürlich auch keinen Kuchen. Martini mit einer Olive reiche schon aus. Und dann tanze man stundenlang, bis zum Abendbrot. Ich habe diese Sonntage geliebt. Hoffentlich kommen sie bald wieder.


Das Internet beschreibt das Phänomen, am Tag zu trinken, anders. Ich lese über Alkoholprobleme, über die Folgen des Lockdowns, Rotwein schon beim Frühstück. Ich lese, wie man mit Bier oder Wein Teammeetings bei der Arbeit überstehen kann. Man nimmt einen Teebeutel, schneidet den Faden samt Etikett ab und klebt ihn auf der Innenseite der Tasse mit einem Stück Tesafilm fest. Den Faden lässt man lässig außen über den Rand hängen, das Getränk wird in die Teetasse gefüllt. Jetzt kann man die Tasse in die Hand nehmen und gewichtig in die Kamera blicken, dabei so tun, als würde einen die Präsentation total interessieren. Ab und zu nicken, einen Schluck des vermutlichen Biotees nehmen, beide Hände um die Tasse halten, das Etikett zeigen.


Ich lese über Wege aus der Sucht, über Therapien und wie man sie anfängt und durchhält.


Kochforen interpretieren das Thema wieder anders, sie schreiben über die Notwendigkeit, tagsüber genügend Wasser zu trinken. Trinken Sie Wasser! Stellen Sie sich immer ein Glas Wasser bereit! Gut für die schlanke Figur.


Das meine ich aber nicht. Habe ich das falsche Suchwort? Wie geht daydrinking auf Deutsch? Thé dansant? Wie umschreibt man den Wunsch, einfach an einem Donnerstagmittag loszugehen, in einen Keller hineinzustolpern, Freunde zu treffen, sich in den Armen zu liegen, zu trinken, zu tanzen und den gruseligen Alltag hinter sich zu lassen?

Virtuell ist das natürlich alles möglich. Im ersten Lockdown, als der Sommer noch vor uns lag und wir alle bereit waren, das Leben mal total runterzufahren, haben wir das getan. Wir haben im Haus getanzt. Aber auch Brot gebacken und Gemüsebeete angelegt, die Sämlinge auf der Fensterbank liebevoll gezogen. Wir haben unsere Lieblingsschauspieler bei ihren Übungen beobachtet, ganze Aufführungen angeschaut und uns auf neue Meetings gefreut. Damals hat noch keiner Bier in die Teetasse gekippt und verklärt in die Kamera geschaut. Die Hintergründe bei Zoom waren noch die Wohnzimmer der Leute, denn das war noch spannend. Nicht Paris, nicht London, sondern ganz bodenständig Castrop-Rauxel und Wuppertal. Der Wandschrank in Schweinfurt.


Aber jetzt?

Jetzt gibt es einen speziellen DJ-Mix zum Abrocken zu Hause. Wie bitte? Alleine? Und dazu ganz viel Wasser trinken?

Ich denke zurück an eine Hochzeit in Bayern vor vielen Jahren. Es war eine altmodische Feier, im August auf dem Lande, wir befanden uns in einem feierlich geschmückten Saal in einem verlassenen Dorf an einem See, es war sehr heiß und ein Gewitter hing in der Luft. Die Veranstaltung verlagerte sich nach draußen, auf die Terrasse, ich fühlte mich in einem langsamen und schweren Heimatfilm, der im Lichtspielhaus gezeigt wird, bis am Nachmittag plötzlich die Braut entführt wurde.

Sie wurde auf ein Weingut gebracht, wo sich die Fässer endlos aufreihten. Irgendwann im Laufe des Nachmittags fanden wir uns alle dort wieder. Der Wein floss reichlich, es wurde viel gelacht, getanzt und gefeiert. Keiner dachte noch an das Essen, das inzwischen im geschmückten Saal serviert wurde, wir tanzten auf den Tischen und lagen einander in den Armen. Ich erinnere mich nicht mehr an den weiteren Lauf des Abends. Ich erinnere mich an die Nacht, da war ein dunkler See mit quakenden Fröschen und zirpenden Grillen, es gab ein Gewitter, das schnell weiterzog. Wir schwammen im kühlen Wasser unter den Sternen, die wieder zu sehen waren, so bald die Wolken sich verzogen hatten. Die Grillen im Gras zirpten. Es war Sommer, wir feierten eine Hochzeit, die Braut war entführt, die Nacht war kurz und beeindruckend, die Sonne war sofort wieder da.


Und jetzt schauen wir Serien. Und warten darauf, das es wieder schöne Aussichten gibt. Finde Freunde! Sagt das Internet. Sag hallo! Schubs an!

Es regnet schon seit Tagen, auf den Dächern liegen noch übriggebliebene Schneefranzen, die in den Schneefängern hängen geblieben sind, wie Spitzenborden am Hochzeitskleid. Es steht ein kalter Westwind, der Schlamm ist so tief, dass die Gummistiefel nicht ausreichen. Einige weiße Reiher picken sich elegant durch die nassen Wiesen, suchen im Schlamm nach Leckerbissen und steigen dann mühelos leicht in die graue Luft.


Ich kenne einen Keller in der Gärtnerstraße. Ich kenne ein Café im Park. Das reicht mir! Ich brauche nicht unbedingt fließenden Wein, zur Not setze ich mich hin und nehme Tee und Kuchen. Einfach einige Leute treffen wäre schon ausreichend. Wir tanzen leise, behutsam, es braucht nicht einmal auf Tischen zu sein. Eine vorsichtige Armlänge Abstand geht! Kein Problem! Keiner braucht hier laut zu lachen, ein einfaches Lächeln ohne Mundschutz ist schon der Max.

Vielleicht ist es anfänglich befremdlich, sich wieder zu berühren. Vielleicht traut man sich nach der ganzen Zeit nicht mehr. Irgendwo muss man wieder anfangen. Reden, ohne Sperre. Einander ansehen, ohne beschlagene Brille. Sapiosexuell, warum nicht.

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