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Perlmutt

Im Winter ist es echt schön hier, staunt Ingrid, steigt vom Holzsteg und stapft durch den Schnee zur Bank, die unter einer stattlichen Tanne steht und zu einer Glühweinpause einlädt.

Wir befinden uns in der Gegend südöstlich von Aachen, dem Hohen Venn, einer Hochmoorlandschaft von 600 Quadratkilometern, von der ungefähr ein Viertel in Deutschland liegt und der Rest in Belgien. Ich bin mit meiner Familie für einen Spaziergang losgelaufen, es liegt eine dicke Schicht Schnee über den Mooren, die Bäume und Büsche sehen phantastisch aus, die Gräser und Bachläufe zeichnen geheime Botschaften auf dem weißen Hintergrund. Es gibt sogar ein bisschen blauen Himmel und eine schüchterne Wintersonne.


Zwei Wanderer sind aus der anderen Richtung gleichzeitig mit uns hier angekommen. Die Wanderwege in diesem Gebiet bestehen aus schmalen Holzstegen, die man nicht verlassen sollte, will man nicht als Moorleiche enden. Es ging eine ganze Weile gut, denn wir sind früh aufgebrochen an diesem Neujahrstag, nur wenige Leute sind unterwegs. Nach einer Weile gewöhnt man sich sogar an die rutschigen, schneebedeckten Bretter. Aber plötzlich kommen nun Ingrid und Magnus aus der anderen Richtung, der Steg ist zu schmal für coronagerechtes Kreuzen, alle müssen absteigen.


Zufällig befindet sich hier gerade die einzige Bank des Wanderwegs. Wir bleiben neben dem Steg stehen, reden über den schönen Wintermorgen. Er liegt schimmernd in der rohen, harten Schale dieser dunklen Weihnachtsferien und leuchtet. Wir erfahren, dass Ingrid und Magnus aus München kommen. Sie wohnen jetzt in Aachen und sind genau wie wir in den Schnee gefahren. Zwanzig Minuten Autofahrt, und man ist in einer anderen Welt. Ich habe Glühwein dabei, weißen Winzerglühwein, das geht um elf Uhr morgens.


Später werden wir im Radio hören, dass man auf keinen Fall in den Schnee fahren solle. Dass es Verkehrschaos gibt und die Rettungswege nicht freigehalten werden können. Dass die Tiere gestört werden, wenn Horden von Touristen abseits der Pfade unterwegs sind. Dass man an den gesunden Menschenverstand appelliert und dringend empfiehlt, zu Hause zu bleiben. Aber das ist erst später. Im Moment hören wir die Stille, staunen über die Weite, die menschenleere Landschaft, den Schnee.


Wir verabschieden uns voneinander, über die federnden Holzstege geht jeder weiter in seine Richtung. Zum Glück wissen wir nicht, dass wir hier absolut unerwünscht sind und Belgien gerade dabei ist, das Naturschutzgebiet für Wanderer ganz zu sperren.


Vor 250 Millionen Jahren gab es schon Austern, behauptet meine Mutter, als sie später mit einem Sekt auf unserer rutschigen Terrasse steht und nicht weiß, wo sie das Glas abstellen soll, um eine Auster in die Hand zu nehmen. Es dauert in unseren kühlen Gewässern bis zu vier Jahren, bis sie eine Größe erreicht haben, die für den Handel interessant ist, dafür werden sie fast dreißig. Sie stellt das Glas auf den Boden, wir sehen uns die Austern an, die mein Vater mit einem Spezialmesser öffnet. In der Ferne sieht man weiße Streifen in der Landschaft, der Schnee in der Eifel. Wo ist Süden? Die Sonne ist schon längst hinter der grauen Wolkendecke verschwunden, aber Süden ist dort, wo der Schnee liegt. Es ist zwei Grad kalt und fängt zu regnen an, ich sammle die Schalen ein und werfe sie ins Blumenbeet, ich kann sie im Frühjahr vielleicht als Schneckensperre einsetzen. Wir trinken noch einen Sekt, und die Eltern fahren wieder nach Hause, ohne Umarmung und hoffentlich ohne Grenzkontrolle.


Dieses Jahr gibt es einen Kulturverlinker, erzähle ich Benedikt, als wir einen Namen für seinen Job im Team der Stadtschreiberin suchen. Er wird sich mit Kulturbehörden und Einrichtungen in Verbindung setzen, damit das Projekt genug Geld und Unterstützung bekommt, um die mitwirkenden Künstler zu bezahlen. Am 1. Januar wurde das Thema der Ausschreibung bekannt gegeben: Nah am Wasser gebaut.


Dieses Jahr trifft das auf uns alle zu.

Eine Schneelandschaft und lachende Menschen. Ein unerwartetes Wiedersehen und ein kurzes Drücken, Winterjacke an Winterjacke. Ein flüchtiger Kuss auf der Mundmaske. Der Vater einer Freundin, der plötzlich an Covid-19 stirbt. Freunde, die in diesem Winter heiraten. Ein neues Baby, das bei den Lieblingsnachbarn geboren wird, das vierte Kind. Ein wiedergefundener Brief der Großmutter, die schon lange tot ist. Ein verlassener Bahnsteig, eine wartende Person.


Eine Auster, die einen lästigen Eindringling loswerden will, entscheidet sich, ihn abzukapseln, damit keine Gefahr mehr droht. Der Eindringling wird ummantelt, immer weiter. Er hat es zwar geschafft, in die harte Schale einzudringen und sich dort festzusetzen, darf sich jedoch nicht mehr bewegen, er kann keine weitere Gefahr anrichten. Die Auster hat einen unfassbar starken Willen, sie filtert unbeirrbar 240 Liter Wasser am Tag, wechselt mutig das Geschlecht, wenn es sein muss, frisst Mikroalgen und arbeitet gegen den Eindringling, bis er kugelrund und perlmuttrig glänzend dort in ihrem Inneren liegt, gefangengenommen und unschädlich gemacht.


Ein Moment in der dunklen Schale der Kontaktlosigkeit.

Selten, strahlend, kostbar und begehrt.

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