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Gegen den Winterblues

Meine Tochter Sophie braucht Schneidewerkzeug, weil sie eine Isolierung zurechtschneiden will. Sie hat vor einigen Wochen einen Ford Transit gekauft, und der soll ihre Wohnung für unterwegs werden. Sie verlegt die Elektrik, die Wasserleitungen, eine Bodenplatte und jetzt halt die Isolierung. Das Auto hat eine Solarzelle und bekommt noch eine Dachterrasse. Wer will denn heutzutage noch mit dem Flugzeug in Urlaub?


Letzte Woche hatte ich versucht, Schwiegermutter Marianne anzurufen. Sie war stundenlang nicht zu erreichen, es stürmte an diesem kalten Winterabend. Ich überlegte, was wohl passiert sein könnte, eine 86-Jährige, die fast nichts mehr sieht, ist an einem stürmischen Abend alleine zu Hause und geht nicht ans Telefon, obwohl sie noch sehr gut hören kann.

Ich rief um kurz vor zehn ihre Nachbarin Claudia an und fragte, ob sie mal schnell schauen könne, ob alles in Ordnung sei, und überlegte, wie schnell ich dort sein könnte, es sind immerhin 150 Kilometer. Ist es ein Notfall? Was soll ich einpacken? Vielleicht noch einen doppelten Espresso trinken, um wach zu bleiben?


In dem Moment, als Claudia über die Straße ging, um an der Tür zu klingeln, wurde Schwiegermutter von ihren gleichaltrigen Freunden mit dem Auto nach Hause gebracht. Sie waren ja nur etwas trinken, war toll, obwohl die Straßen glatt waren. Sie rief mich gleich zurück. Ob ich nächste Woche zum Impftermin Blumenerde mitbringen könnte? Am besten zwei Säcke, sie müsse ja auch noch zum Grab.


Blumenerde. Die ohne Torf. Sie will in ihrem Garten Blumen pflanzen. Sie sieht nicht mehr gut in der Nähe, nur noch ein bisschen in der Ferne. Der Garten soll im Frühling möglichst freundlich und bunt sein.


Ich laufe in einem dunkelgrünen Parka durch den Baumarkt, sauge professionell die emsige Heimwerker-Atmosphäre in mich auf, ich weiß ja nicht, wie oft ich hier dieses Jahr noch einkaufen kann. Es kann gut sein, dass bald die dritte Corona-Welle kommt und alles wieder vorbei ist. Dabei hat der Frühling doch kaum erst angefangen. Im Baumarkt sind die Fachberater extrem freundlich. Jeder Besucher ist angemeldet, so wie es sich gehört für eine exklusive Privatparty. Zweitausendeinundzwanzig.


Wo ich Erde finden kann? Torflos? Der Mitarbeiter hat eine blasse Haut, rötliche Haare und sehr helle Augen. Er begleitet mich durch den Markt. Dort, hinten links. Soll ich bis da mitkommen?

Ich versichere ihm, dass ich es alleine schaffe, hier ist die Gartenabteilung ja schon. Bei den Säcken mit Erde stehen außerdem zwei weitere Mitarbeiter. Ich studiere die Schilder. Aufzuchterde, Tomatenerde, Kräutererde, Graberde, torfreduzierte Blumenerde, Blumenerde ohne verdammten Torf.

Wird das klappen? Brauchen Sie Hilfe?


Sehe ich so aus? Ich habe keinen Einkaufswagen genommen, trage schon einige Produkte in der Hand, Schrauben und Schneidewerkzeug für meine Tochter, aber ich bin zu stolz, um Hilfe anzunehmen. Außerdem brauche ich noch eine Kettensäge, denn ich will einen Baum kürzen. Aber das habe ich bei der Anmeldung nicht eingetragen, daher werde ich ein anderes Mal wiederkommen. Ich lächele hinter der Maske und bedanke mich, heute nicht, packe die beiden 20-Liter-Säcke seltener Erde auf den Arm und trete stolpernd den weiten Weg Richtung Kasse an. Bis bald.


Die Karte nehmen wir hier nicht, verunsichert mich die Bedienung an der Kasse. Alles, nur kein Amex. Das kann ich verstehen. Der Auszubildende schüttelt bedauernd den Kopf, die Ausbilderin mit den Händen auf den Hüften nickt zufrieden. Wo ich die Produkte hinstellen kann, ich müsste zum Auto, eine andere Bezahlmöglichkeit suchen. Die können Sie ruhig hier liegen lassen, lautet die Antwort, also lege ich beide Säcke mit Erde und die anderen Teile aufs Band, bevor ich zum Ausgang gehe und auf dem Parkplatz mein Auto suche. Beim Wiederbetreten des Baumarktes muss ich mich mit der Security auseinandersetzen, wieso ich schon registriert bin, obwohl ich gerade von draußen komme. Party Crasherin. Die Ausbilderin und ihr Lehrjunge sitzen gemütlich an der blockierten Kasse, sie trinken in Ruhe einen Kaffee hinter Plexiglas.


Der Fotograf Frank hatte im Januar eine Foto-Shooting Aktion. Aktfotografie wäre die beste Medizin gegen Winterblues. Das mag sein. Das Shooting hat jedenfalls Spaß gemacht und die Fotos sind auch gelungen, vor allem das eine, das auf Leinwand gezogen wurde.

Man sollte Fotografen und Künstler, die ganzen kreativen Selbstständigen, unterstützen, wo es nur geht.


Sie ist schon originell, sagt Frank.

Ist das nicht übertrieben, frage ich.

Es ist sehr erotisch, antwortet Frank.

Ich sehe eine fast nackte Frau in Gummistiefeln, sie trägt einen grünen Parka, steht alleine und ein bisschen verloren im Raum und scheint sich zu wundern, was los ist. Pandemische Stille um sie herum.


Ich muss später zum Impftermin, trinke aber vorher in Ruhe einen Kaffee und betrachte die Leinwand. Ich sehe die Baumarktbesucherin, die Medizin gegen Winterblues.


Zweitausendeinundzwanzig, denke ich, ja, originell ist es.





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