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Das Muster der Wellen

Aktualisiert: 1. März 2021

Gestern Nacht lief ich durch den Wald, am Fluss entlang, der Vollmond schien so klar, dass der schmale Weg hell beleuchtet war. Ich hörte, wie das Wasser am Ufer gluckerte, kleine Wellen in einzigartigen Mustern legten sich um die silber glänzenden Steine. Plötzlich sah ich in der Ferne vier weiße Dinge auf mich zukommen, sie waren nah am Boden und bewegten sich rhythmisch. Sie kamen immer näher über dem Waldboden. Erst nach einer Weile erkannte ich die Turnschuhe zweier Jugendlichen. Sie hatten dunkle Kleidung mit weißen Streifen an, sodass oberhalb der weißen Schuhe sich bewegende parallele Bahnen zu sehen waren, die auf mich zu tanzten.

Ich tauchte tiefer in meinen dunklen Mantel ein und grüßte kurz. Sie erwiderten den Gruß, gute Nacht, und wir gingen aneinander vorbei. Ich drehte mich nicht um. Einige Tiere raschelten in den trockenen Blättern. Es schrie ein Nachtvogel, der Bach rauschte.

Einige Minuten später kamen vier weitere weiße Dinge auf mich zu, im gleichen monotonen Rhythmus. Jetzt wusste ich, was es war, und wunderte mich nicht mehr. Gute Nacht.


Als ich fast bei der Brücke ankam, liefen dort schon wieder drei mondscheinbeleuchtete Gestalten, und jetzt entschied ich mich, nachzufragen. Wo wollt ihr hin, habt ihr eine Versammlung? Ist hier eine nächtliche Verschwörung? Höflich und freundlich kam die Antwort aus der tiefsitzenden Kapuze, sie wollten Pizza essen. Und was ist mit den anderen, die gerade vor einigen Minuten vorbeigegangen wären? Nein, mit denen hätten sie nichts zu tun, das wäre Zufall.

Nun wohne ich nicht am Stadtpark in Düsseldorf, hier trifft man sich nicht, der kleine Wald mit den Felsen, den schmalen holprigen Wegen und dem Fluss ist nachts meistens komplett verlassen. Aber gestern liefen also sieben junge Männer und mindestens drei Pizzas in den Wald hinein.

Ich kam aus dem Wald, ging über die Brücke, zum Marktplatz. Alles lag verlassen da, keine Personen befanden sich auf der Straße, kein Auto fuhr. Ich stieg die 121 Blausteinstufen zum Friedhof hoch. Die Gedenktafel für die jüdischen Mitbürger, die hier vor 70 Jahren verschleppt wurden, schimmerte still im Mondlicht.


Oben auf dem Parkplatz standen einige Autos mit Jugendlichen. Sie hörten Musik und unterhielten sich, die Autotüren geöffnet. Früher hätte ich mich überhaupt nicht getraut, hinzugehen und nachzufragen, denn jeder wusste, dort drin sind Leute, die Sex haben und dabei nicht gestört werden wollen. Die Fenster wären beschlagen und das Auto würde auf der Stelle federn. Das ist nicht mehr der Fall. Jetzt sind dort junge Leute, die sich unterhalten, Musik hören und essen, wir haben ja Corona und man kann nirgendwo hin. Alle Cafés haben zu, nicht einmal ein Büdchen findet man hier.


Ich gehe hin und bitte sie, den Abfall in den Mülleimer dort auf dem Friedhof zu werfen. Sie nicken verständnisvoll und wünschen mir noch einen schönen Abend, ich wünsche ihnen viel Spaß noch. Wie bitte? Es ist Samstagabend, 23 Uhr. Jugendliche treffen sich im Wald und auf Parkplätzen mit Fastfood und Musik. Und ich wünsche ihnen viel Spaß. Ich schäme mich ein bisschen.

Übrigens, wahrscheinlich darf ich nicht einmal erzählen, dass im Wald junge Männer waren und auf dem Parkplatz Männer und Frauen, denn das ist diskriminierend. Es ist ein weites Spektrum zwischen männlich und weiblich. Man soll als außenstehende Spaziergängerin nicht entscheiden, wer sich wie zu fühlen hat. Es kann sogar sein, dass jemand sich nicht festlegen möchte, und das soll respektiert werden.


Die Evolution kommt nie von den Alten. Sie wollen meistens das, was sie kennen, behalten, neue Dinge machen ja Angst. In Spanien versucht man eine gendergerechte Sprache einzuführen, indem man die Wörter auf –a oder –o neu schreibt, sie auf –e enden lässt. Oder das genderneutrale @ verwendet. Also nos vamos, muchach@s.

Dort sitzt ein konservatives Gremium, welches über die Sprache wacht und entscheiden soll, welche Änderungen akzeptiert werden. Meistens tun wir uns unglaublich schwer mit irgendwelchen Änderungen.


Vielleicht sollte man einige Jugendliche in dieses Gremium setzen.

Die Änderungen kämen herangaloppiert, die neue Sprache und die korrekten Wörter für alle Geschlechter der Welt würden mit der Wucht der Jugend und einem religiösen Eifer eingeführt werden, sie würden siegessicher die alten Begriffe wie eine Flutwelle überspülen, bis zur nächsten Generation, die in diesem Fall schon nach acht bis zehn Jahren anklopft oder gleich mit der Tür ins Haus fällt.


Ich frage mich, als Sprachendozentin, wie man denn unterrichten soll. Sofort ist das alte Problem wieder ganz aktuell. Keiner will das Gerüst, die Grammatik, lernen, nur Wortschatz bitte. Am liebsten mit fließenden Übergängen, sodass man sich nicht festlegen muss. Das Genus ist überbewertet, die Wörter sollten jederzeit frei entscheiden können, wie sie daherkommen, sie können sich innerhalb eines Textes auch umentscheiden, vielleicht wollen sie ja ein anderes Genus haben. Es gibt keine Regeln, alles ist frei, nichts wird festgelegt. Moment, waren wir da nicht schon mal?


Aber dann kommt die neue Generation. Sie gräbt auf dem weiten Strand alte Schatztruhen aus und entdeckt Neues. Sie wird alles wieder anders machen. Sonst gibt es keine Evolution. Sie führt schräge Ideen ein, Hauptsache anders, und sie kommt damit durch, die Welt ändert sich.

Vor Jahren schien mir die vegane Lebensweise zum Beispiel völlig absurd. Ich war schon lange Vegetarier, aber vegan? Unmöglich. Einige Jahre später hat sich das komplett geändert, vegan ist die natürlichste Ernährungsform geworden, nur die Alten und Verrunzelten essen noch Fleisch und kaufen Milch in Tüten.


Heute morgen laufe ich am Friedhof vorbei, kein bisschen Müll ist zurückgeblieben. Anders als wenn Pensionierte mit ihren Klappstühlen hier haltmachen und den Grill auspacken. Aber man soll nicht verallgemeinern.

Das Leben spielt sich in Wellen ab. Immer wieder kommt eine angerollt, die die Dinge überspült, sie mitnimmt und neue Sachen und Muster auf dem Strand hinterlässt. Aber auch das Neue bleibt nicht für immer, es ist nur gültig, bis die nächste Welle kommt.


Es ist jedoch nicht alles umsonst. Manche Schätze liegen tief vergraben, es lohnt sich, sie zu suchen. Sie bringen wahren Reichtum. Und durch die stetige Bewegung der Wellen wird nach und nach der Strand geformt, die Insel, das Land, die Welt.

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