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Autorenbildkatelijne7

Elbwelle


Heute habe ich den Tag in einem neurologischen Rehabilitationszentrum verbracht.

Renate, die Klavierlehrerin meines Jüngsten, eine 78-Jährige quirlige Dame aus dem Dorf, wollte dort ihren Lebensgefährten besuchen. Er hatte einen Schlaganfall und liegt seit September im Bett, das Gesundwerden geht nur ganz langsam voran. Da dieses Zentrum 110 Kilometer entfernt liegt und mit öffentlichen Verkehrsmitteln so gut wie gar nicht zu erreichen ist, habe ich vorgeschlagen, sie hinzufahren. Sie soll ihren Liebling sehen können.


Sie hat einen Besuchstermin vereinbart. Sie meldet sich im Eingangsbereich an, bekommt einen Besucherausweis, macht einen Corona-Test. Dann muss sie abwarten. Ist er negativ, wird sie einen Schutzanzug bekommen und in den Patiententrakt gehen können, um ihn zu besuchen.


Ich sitze in der Bibliothek, beobachte die Patienten an den Tischen, im Rollstuhl oder im Schlafanzug, auf Pantoffeln. Manche haben Besuch von enttäuschten und genervten Verwandten. „Sie sollten Ihre Maske aufsetzen, Ihr Corona-Test war doch positiv, erinnern Sie sich?”, bringt mich eine Stimme aus der Ruhe. Ich blicke mich um. Ein Pfleger hat sich mit seinem Patienten am anderen Ende des Raumes unterhalten. Der Patient zuckt mit den Schultern und setzt die Maske auf. Ich halte den Atem an.


Da kommt auch schon Renate zurück, sie hat Getränke dabei, und auf roten Lederstiefeln mit hohem Absatz bewegt sie sich schnell und elegant durch den Raum, das Tablett mit den Tassen mühelos balancierend. Sie setzt sich zu mir, und wir trinken Kaffee, während wir auf das Ergebnis des Schnelltests warten.


Der Test ist negativ, sie bekommt einen Schutzanzug, zieht ihn an, winkt mir zu und verschwindet in den Flur, ein kleines, außerirdisches Wesen auf hohen Schuhen. Ob sie wirklich 78 ist?


Habe ich ein Anrecht auf ein Stück Torte? fragt die Frau im Rollstuhl und sieht in die Runde. Am Tisch, auf den sie zusteuert, sitzen fünf Herren mit Kaffee und Kuchen, sie heben die Köpfe und drehen sich in ihre Richtung, schauen sie nachdenklich an. Haben Sie denn den Tarif, in dem die Torte inbegriffen ist? fragt einer. Sie weiß es nicht. Die Gruppe fängt an, die verschiedenen Tarife durchzurechnen, und kommt zu dem Schluss, dass die Frau zwar Vollzahlerin ist, aber auf Tagessatzbasis. Das heißt, sie hat ein Anrecht auf Mahlzeiten, aber vielleicht nicht auf Kuchen am Nachmittag. Das wäre aber schade, gibt es heute nicht sogar Donauwelle?


Wieso heißt das eigentlich Donauwelle, frage ich mich. Gibt es auch eine Rheinwelle? Eine Elbwelle? Bei diesem letzten Gedanken bekomme ich einen salzigen Geschmack im Mund, ich schmecke See, Wind, Regen und Schiffe. Die Frau äußert sich enttäuscht, dass die Donauwelle nicht für sie gedacht ist.

Dafür haben Sie den Genuss, jeden Abend ins eigene Bettchen zu dürfen, sagt ein anderer Mann am Tisch. Wir sitzen hier den ganzen Tag herum und schlafen fremd. Wobei das auch Vorteile hat, haha.


Einer der Männer erhebt sich schwerfällig, nimmt die Griffe des Rollstuhls in die Hände und schlurft Richtung Büdchen, die festgeschnallte Frau vor sich herschiebend. Auf der Suche nach einem Stück Donauwelle. Die anderen bleiben am Tisch zurück und rechnen die Tagessätze weiter. Ob man beim stationären Aufenthalt all inclusive hat, also auch ein Bier und einen Schnaps bekommen kann?


Nachdem Renate bei ihrem Lebensgefährten war, ihn gewaschen und umgezogen hat, rasiert und frisiert, trinken wir noch einen Kaffee zusammen. Sie trägt sich bei der Rezeption wieder aus, gibt den Besucherausweis ab und wir stapfen zum Parkplatz.


Unterwegs nach Hause erzählt sie, wie gut sie es hat. Als Kleinkind ist sie mit ihren Eltern aus der Tschechoslowakei vertrieben worden, dann sind sie irgendwann von Ost- nach Westberlin geflüchtet. Nachdem sie verschiedene Monate in einem Auffanglager verbracht hat, ist die Kleinfamilie in ein Lufthansa-Flugzeug mit dem Ziel Hamburg gestiegen. Die Stewardessen hatten unfassbar elegante Uniforme an.

Sie liebt es immer noch, zu fliegen. Es ist für sie das ultimative Gefühl von Freiheit.


Ihren Lebensgefährten hat sie nach dem Tod ihres Mannes im Altenheim kennengelernt, wo sie ihre Eltern gepflegt hatte. Er hatte sich dort um seine kranke Frau gekümmert, bis diese gestorben war.

Jetzt sind die beiden schon fünfzehn Jahre zusammen. Er fliegt auch gerne. Bald werden sie wieder eine Fernreise machen. Wenn er aus der Neurologie entlassen wird. Und wenn sie sich dann endlich impfen lassen können.


Ich schaue vor mir hin, auf die Autobahn, wir fahren Richtung Westen, in den Sonnenuntergang hinein. Die Wolken sind phantastisch, die letzten Farben und ein surreales Licht geben diesem Tag eine einzigartige Schönheit. Renate sitzt still neben mir. Sie lächelt.




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