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die Unfertigkeit der Dinge

Wo befinden Sie sich genau, ah, ich sehe schon, ganz alleine auf dem Feldweg, der zum Wald führt, beim alten Kalkofen. Ich sehe mich um in der dunklen Nacht, Mobiltelefon am Ohr, bemerke schemenhaft den alten Kalkofen dort in der Dunkelheit. Ich sehe die Schatten, die das Gemäuer umkreisen, Fledermäuse, hoffe ich. Ich nicke, ja, dort bin ich. Aber wo ist mein Gesprächspartner? Er ist so einer, der mich richtig nervös macht. Zwischen den Schleierwolken erscheint der Sichelmond, der Wind ist kalt. Wir sind gleich da, bleiben Sie, wo Sie sind.


Ich stelle mir die Freiwillige Feuerwehr vor, wie sie nachts in der Einsatzzentrale vor einem Computerbildschirm sitzen und das blinkende Pünktchen beobachten, das dort alleine ohne weitere Pünktchen im Feld steht. Ich bitte sie, leise und unauffällig durch die Nacht zu mir zu kommen, nur gucken.



Das Pünktchen beendet jetzt das Gespräch, bleibt in einem gewissen Sicherheitsabstand still neben dem Feuer stehen und wartet, in die Dunkelheit hinausspähend. Dort ist der Wald, dort ist der Kalkofen. Die jungen Rinder auf der Wiese schnaufen, kleine Wölkchen kommen aus ihrer Nase, dünne Gespenster in fetzigen Gewändern. Es ist still, ab und zu schreit ein Nachtvogel.


In der Ferne, dort, wo das Städtchen ist, erscheint nun ein Blaulicht. Es biegt um die Kurve, fährt weiter, man kann anhand der Strecke nachvollziehen, wie die Straße verläuft und wo sie in den Wald verschwindet, wo die Bäume das Blaulicht filtern und es so noch verwirrender und gespenstiger machen. Es scheint mir blauer und heller zu sein als früher, sogar mit so einem Abstand ist es schwer anzuschauen, es blendet und macht unruhig. Wahrscheinlich ist das Absicht. Und dann geht das Martinshorn auch noch an. Ich verdrehe die Augen, kein Mensch befindet sich auf der Straße, es ist mitten in der Nacht. Die Natur wird mit heulenden Sirenen aus dem Schlaf gerissen, die Rettung kommt angefahren.

Zwei Feuerwehrmänner oder -Frauensteigen aus, in voller Montur, sie laufen in den Feldweg hinein und kommen maskiert zu mir ans Feuer. Es brennt noch hoch, die Bäume drumherum sind kahl, ich hatte Bedenken, dass die Flammen vom Wind in die Bäume geleitet werden würden, dass der Wald brennen würde, daher hatte ich 112 angerufen. Aber nein.


Landwirtschaftliches Nutzfeuer, spricht einer der beiden Einsatzleute in das Funkgerät, nachdem sie die Situation fachmännisch eingeschätzt haben, Einsatz beendet, over und out. Sie nicken mir zum Abschied zu, drehen sich um und gehen zu ihren Kollegen zurück, es warten mindestens fünf Mann im Einsatzwagen. Ist das leise und unauffällig?


Wenn ich später durch den Wald am Bach entlanggehe und gerade genug Mondlicht durch die Äste fällt, um den Weg und das schimmernde Wasser zu zeigen, weiß ich, dass ich sicher bin. Jemand passt auf mich auf. Eine ganze Mannschaft. Was auch passiert, sofort schnellt die Feuerwehr zu Hilfe, innerhalb von Minuten ist sie da, ich brauche nur anzurufen. Sie sehen immer genau, wo ich bin und mit wem.


Die kahlen Äste zeigen absurde Lichtspiele, der Waldboden presst die Anemonen, den Ehrenpreis und das Scharbockskraut heraus, er formt einen Teppich, von dem ich weiß, dass er saftig grün ist, weiß und lila gesprenkelt. Noch unfertig. Aber es ist Nacht, die Blumen sind geschlossen und genau wie die Sträucher und Bäume grau, dunkelgrau und schwarz.


Inzwischen sind einige Wochen vergangen, die Tage sind viel heller und im Wald ist es immer dunkler und schattiger geworden. Die Sonne schafft es kaum noch bis zum Waldboden. Die Bäume haben in einer unfassbar kunstvollen Arbeit ihre Blätter geformt, transparent am Anfang, zart leuchtend, das Licht wie durch japanisches Seidenpapier filternd. Später vollgesaugt mit Saft, kräftig dunkelgrün und kühl glänzend.


Während ich durch den Frühsommerwald laufe, bekomme ich eine Whatsapp von Lydia, einer Gewinnerin des Stipendiums Stadtschreiberin. Sie schickt mir ein Foto vom Strand in Oevelgönne, von einem Mülleimer, auf dem steht “ich bin nah am Wasser gebaut”.

Ich buche ein Ticket mit der Bahn, ich will nach Hamburg. Der Strand, die Schiffe, der Hafen.

Es ist Sommer geworden, die Cafés haben wieder aufgemacht, die Museen. Die Eröffnungsfeier muss geplant werden. Die Einladungsliste wird erstellt, die Einladungen gehen raus, die Lesungen werden organisiert, die Musik.

Ich habe Unterstützer gefunden und einen tollen Moderator fürs Fest. Er heißt Cornelius, aus Münster. Aber er nennt sich Corny.


Kornelimünster heißt das Städtchen am Fluss, südlich von Aachen, in dem ich wohne. Es wurde von einem der Söhne Karls des Großen errichtet, von Ludwig dem Frommen, der ein Kloster mitten im Wald gründen ließ. Man kann die Abteikirche immer noch besuchen, die ehemalige Reichsabtei ist heutzutage das Kunsthaus NRW, mit Kunstwerken, die seit 1910 entstanden sind. Kommen Sie doch einfach mal vorbei, es ist schön hier. Es gibt den Wald, es gibt den Bach, krumme und verwunschene Fachwerkhäuschen. Eins der Häuschen am Markt misst gerade mal 2,42 Meter und ist damit das schmalste Haus des Landes. Es gibt die Feuerwehr, die alles im Griff hat.

Es gibt eine phantastische Kunstsammlung.


Mein 15-Jähriger kommt erschöpft aus der Schule nach Hause, er hatte neun Stunden Unterricht heute und es ist 30 Grad im Schatten. Unter der Gesichtsmaske ist die Temperatur wahrscheinlich noch viel höher. Er wirft aufgerollte Zeichenblätter auf den Tisch, Kunst. Die Note ist 3-, oben auf dem Begleitschreiben steht Bewertungsbogen zu einer Leistungsaufgabe. Leider noch unfertig. Wer behauptet denn so etwas? Ich sehe mir das Kunstwerk an. Schade, dass die Kinder noch nie im Museum waren. Wie sollen sie wissen, worum es geht, wenn sie nur bestimmte Vorgaben zu erfüllen haben? Ich werde das Kunstwerk gut aufheben, es wäre nicht das erste, das es am Anfang schwer hatte, anerkannt zu werden. Vielleicht platziere ich es auch unbemerkt im Kunsthaus, mit einem anderen Namen versehen. So einem, der richtig nervös macht.

www.kunsthaus.nrw/


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