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Die Seemannsmission

Ich habe ein Mikro und das Aufnahmegerät dabei, sagt Kerry, die Radioreporterin von NDR 90,3. Ich wollte sie in Ottensen auf einen Spaziergang mit Kaffee treffen, sodass ich ihr von meinem Projekt erzählen kann. Sie hat einen Hund dabei, der ausgelassen die Umgebung in sich aufnimmt.Es weht ein eisiger Nordwind. Wir suchen eine windgeschützte Stelle.

An einem kleinen Steintisch finden wir einen Platz in der Sonne, Mottenburger Twiete, lese ich leise den Straßennamen vor, es hört sich wie ein magischer Spruch an. Kerry baut das Mikro auf und startet die Aufnahme.

Ich erzähle von dem Projekt und wie sich immer mehr Förderer für die Stadtschreiberin interessieren. Wie ich noch die Unterkunft für den Stipendiaten überdenke, für den Fall, dass es im Vorwerkstift zu laut wird, da es dieses Jahr dort Umbauten gibt. Welche Alternative gibt es? Die Seemannsmission? Die Reporterin stellt unkompliziert und direkt ihre Fragen, der Hund bestätigt meine Aussagen mit aufgeregtem Bellen, sie wird das Gespräch später zusammenschneiden, nicht im Studio, sondern zu Hause unter der Daunendecke, die genauso gut die Umgebungsgeräusche dämpft wie ein Tonstudio.


Die Seemannsmission, ist das nicht ein bisschen spartanisch? fragt Dr. Flemming von der Kulturbehörde am Telefon. Hier hätte ich antworten können, dass die Förderung ja auch spartanisch ist, aber das tue ich nicht. Die Seemannsmission ist großartig, antwortet die Tochter eines Kapitäns. Ein Schreibtisch am Fenster, arbeiten mit Blick über die Elbe. Eine Wohnung mitten im Leben am Altonaer Fischmarkt. Der Hafen, die Schiffe, das Wasser. Nah am Wasser gebaut.

Am Altonaer Fischmarkt lasse ich einen Covid-19-Test machen, die Betreuer im Testzentrum sind schnell, gut organisiert, innerhalb von einigen Minuten ist der Test schon durch, das beruhigende Resultat kommt eine halbe Stunde später aufs Mobiltelefon.


Unser Zukunft ist Schrott, steht auf der Kaimauer in Steinwerder. Ein Schiff fährt vollgeladen mit Metallabfall vorbei, schwer und tief im Wasser liegend. Die Autowracks sind zusammengepresst, die Formen nicht mehr zu erkennen. Das, was die Marke ausgemacht hat, das Design, die Farbe, alles ist verschwunden. Das Blech, die Stangen, die Motoren, die Bremsen, das durchdachte Antiblockiersystem, die Lenkräder mit Tasten, Knöpfen und Hebeln, mit Digitalcodes, nichts bleibt. Die genial entworfenen Instrumententafeln, die Sommer-, Winter- oder Allwetterreifen, die verbogenen oder intakten Achsen, die intelligente Fahrzeugtechnik, die Energie und Arbeit von Generationen. Die Verbandskästen. Die Warndreiecke. Was bleibt, ist nur noch ein unregelmäßiger Streifen Abfall, eine Idee.

Ich stehe am Kai.

Dort fährt unsere Zukunft vorbei.


China wartet auf leere Container, die sich in den europäischen und amerikanischen Häfen stauen, wo sie auf den Rücktransport warten. Durch die Blockade des Suez-Kanals vor zwei Wochen ist der ganze Welthandel durcheinander geraten. Das Geschäft mit den Containern wächst enorm, es ist schwer, welche zu bekommen. Die Mietpreise sind höher als jemals zuvor.


Es kommt ein großes Containerschiff angefahren, in den Hafen hinein. Zwei Schlepper versuchen es zu drehen. Bald wird die Köhlbrandbrücke abgerissen, die großen Schiffe aus China passen nicht mehr darunter durch. Auch die Elbvertiefung muss weitergebaggert werden. Der Welthandel kümmert sich nicht um den Schlierlings-Wasserfenchel, der dort wächst, er bringt kein Geld. Es ist ja nur eine kleine seltsame Pflanze, unscheinbar vor sich hin sinnierend im Schlamm der Elbe.

Hamburg muss mit Antwerpen und Rotterdam mithalten können. Eine tiefere Fahrrinne heißt mehr Container, mehr Güter, mehr Kapital, mehr Schrott, mehr Zukunft.


Auf den Intensivstationen sterben gerade eine ganze Menge Personen, ohne dass ihre Verwandten es mitkriegen, von überforderten Intensivpflegern betreut. Sie tragen den Todeszeitpunkt ein und schalten verzweifelt die Beatmungsmaschine ab.


Unsere Zukunft baut sich aus Containern mit Konsumgütern auf, wir bekommen auch Gesichtsmasken und Medizinapparaturen aus China. Billig, dort. Wir graben unsere Flüsse immer tiefer, damit sie durchfahren werden können, wir versprechen, die leeren Container schnellstmöglich zurückzuschicken, damit sie wieder gefüllt werden können.


Keiner will spartanisch leben, sondern möglichst viele Güter bekommen. Aber was passiert mit dem ganzen Schrott, wenn man stirbt? Wenn die Maschine abgeschaltet werden muss und man mit dem Leben noch nicht fertig war? Soll man die ganzen Sachen einfach in einen Container packen? Wer räumt hinter einem auf?


Es kann sein, dass es plötzlich keine Zukunft gibt. Dass ein Leben auf einmal abbricht. Dann steht dort ein Container, gefüllt mit Vergangenheit, und keiner weiß, wohin damit, keiner fühlt sich verantwortlich dafür.

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