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Stachelbeeren

Der schlanke, drahtige Körper ist komplett mit Tattoos bedeckt, die Fingernägel sind Rapsgelb, einige Piercings durchstechen die Lippe und die Nase, er heißt Deniz. Ich habe ihn in Berlin mitgenommen, zusammen mit zwei Stück Kuchen und einer Picknickdecke. Weiter liegen eine Yogamatte und ein Bikini im Kofferraum. Das Schlauchboot ist in Berlin geblieben.


Ach, der Kuchen. Es gibt in Berlin einen Ort, den man als Belgierin besucht haben muss. Nicht die Botschaft in der Jägerstraße, dort bekommt man keinen Termin, oder man bekommt ihn viele Wochen zu spät. Die Botschaft ist träge und schwerfällig, das weiß ich, ohne jemals dort gewesen zu sein. Es ist ja eine Botschaft. Und sie weiß es selber auch, denn sie versucht, durch einen schnittigen Begriff ihren Diensten einen jugendlichen Anstrich zu geben.

Flying Kit Mission.

Diese Mission sorgt dafür, dass die Belgier zur Erfassung ihrer biometrischen Daten nicht mehr bis nach Berlin in die Botschaft reisen müssen, sondern zwei Mal im Jahr einen Flying Kit-Termin in Köln, München oder Frankfurt buchen können. Ich wollte aber nach Berlin. Flying Kit Cat? fragt Deniz. Nein, bedauere ich.


Den Kuchen habe ich in der Grunewaldstraße gekauft. Im Café Petit Pâté. Hier gibt es selbstgebackenes französisches Gebäck, das knusprig ist und cremig, etwas salzig und gerade süß genug, warm, frisch, schokoladig, fluffig, die Auswahl ist nicht leicht.

Ich esse dort mit meiner Tochter éclairs und noch etwas Wolkeliges, wir trinken Kaffee und reden französisch. Es fängt leicht zu regnen an.

Der Chef kommt raus, um nach uns zu schauen und danach, ob der Regenschauer es ernst meint. Chefin, sagt er, hier regiert die Chefin. Sie sammle die besten Rezepte, sie sorge dafür, dass alles frisch gebacken wird. Sie weiß, wie man Räume einrichtet.


Wir setzen uns rein, hier fühlt man sich sofort zuhause. Hier will man bleiben. Ein Rotwein jetzt? Mit einer herzhaften Tarte? Die sehen auch gut aus. Kerzen an, auch wenn es erst Nachmittag ist. Aber ich muss noch nach Aachen, kaufe noch etwas für unterwegs und freue mich über die schöne Box, die sich leicht und stark um die Teilchen faltet. Eine Handtasche, die mir steht. Als Belgierin.


Die A2 ist komplett gesperrt, wir steigen aus und setzen uns auf die Leitplanke in die Abendsonne. Beobachten, wie die Leute aus den Fahrzeugen kommen und über die Autobahn spazieren. Es weht ein leichter Wind, wir hören die Vögel singen. Der ganze Verkehr steht, zwei Stunden Ruhe.

Ich habe verschiedene Grautöne dabei, sagt Deniz.

Damit kannst du richtig Kohle machen, sagt die andere Mitfahrerin, die in Brasilien im Auswärtigen Amt gearbeitet hat. Botschaft, seufze ich. Ich weiß, bestätigt sie.


Sie liebt Brasilien, wird sobald es geht wieder dahin ziehen. Gebürtig ist sie Berlinerin, wohnt zur Zeit in Maastricht. Aber hier, jetzt, auf der A2, würde sie Kunden für Deniz suchen, die sich die Finger- und Fußnägel lackieren lassen wollen. Jetzt, wo wir eine so lange Pause haben. Da kann man genauso gut etwas Wellness anbieten. Das Wetter ist perfekt, der Nagellack trocknet sofort. Aber nur Grautöne? Wie der Asphalt?

Das Rapsgelb wird nicht klappen, das braucht sechs ultradünne Schichten, und ich habe ja nur grau dabei, sagt Deniz. Er habe auch mal im Tattoo-Studio gearbeitet. Damit fangen wir erst gar nicht an, sage ich.


Ich überlege, stattdessen die Yogamatte auszurollen. Ein polnischer Lkw-Fahrer kommt auf uns zu und erzählt, dass er auch Yoga macht, er zeigt auf den Hubschrauber und schüttelt den Kopf, dann aber lacht er über sein ganzes breites Gesicht, die Augen funkeln, als er über seine Arbeit spricht, ihm fehlen einige Zähne. Ich verstehe kein Wort.

Die Picknickdecke? fragt die Brasilianerin. Wieder lacht er. Ein Mann kommt vorbei und verteilt Gummibärchen. Er erzählt, dass er aus Bielefeld kommt, und dass er es lustig findet, so über die Autobahn zu spazieren und mit Menschen zu reden. Deniz holt eine Papiertüte aus dem Auto und beißt in ein Körnerbrötchen mit Käse. Hauptberuflich arbeite er im Berliner Senat. Normal, sage ich. Divers.

Die Brasilianerin hat auch ein Käsebrötchen dabei, mit Salat und Mayo. Sie arbeite für Mercedes.


Ich arbeite als Geschichtenerzählerin. Die Handtasche aus Pappe habe ich im Kofferraum versteckt. Der Kuchen wird hier nicht verteilt, den brauche ich noch. Hoffentlich hält er sich. Stachelbeeren-Baiser.


Irgendwann setzt alles sich wieder in Bewegung, die A2 wird freigegeben, wir fahren in die Abendsonne hinein. In Braunschweig steigt noch eine junge Frau aus Mozambique ein. Mehr sagt sie nicht. Es ist nach Mitternacht, als ich alle abgesetzt habe und in Aachen ankomme. Meine Beine zittern, es dauert eine ganze Weile, bis ich zur Ruhe komme. Die Nacht ist still. Ich denke an die Tage, die ich mit meiner Tochter an einem See in Mecklenburg verbracht habe. Wir sind durch das glasklare, kalte Wasser geschwommen. Unter Wasser: die absolute Stille, die geheimnisvolle Leere. Wir haben Fischadler und Wisente beobachtet und Lagerfeuer gemacht. Fisch gebraten, Sterne geguckt und Mücken verjagt.


Ich freue mich auf das Frühstück gleich, wenn die Sonne wieder aufgeht. Das Baiser wird ein bisschen eingefallen sein, vielleicht wird le petit pâté schief aus der Box gucken. Egal.

Gleicht gibt es Stachelbeeren.


https://cafe-petit-pate.de/




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