Es ist Montagmorgen, kurz vor sieben, ich schleiche mich auf Flipflops und in einem Regenmantel aus dem alten Bruchsteinhaus, das letzte in der kleinen Sackgasse, und gehe schon mal durch die Dunkelheit bis zur Kreuzung. Schwarze Wolken hängen in einem schweren Himmel, ab und zu blinzelt der abnehmende Mond zwischen den dunklen Massen hervor. Der Nieselregen rauscht leise durch die Bäume und sammelt sich in Tropfen auf den Blättern.
Ich warte an der Straßenecke, bis ein alter Jeep anhält. Ich steige ein.
„Bonjour!“ sagt Jean Marie.
„Bonjour“, antworte ich, als wir durchs verlassene Fischerdorf fahren. Nebel hängt in den Straßen. Dann geht es einen steilen Hang hoch, wir fahren schnell, scheinen allein unterwegs zu sein. Oben beim Parkplatz schaut er, ob jemand ihn beobachtet, fährt dann durch die für Verkehr gesperrte Straße hinunter zum Strand, wir steigen aus, Jean Marie hat Gummistiefel an. Er nimmt seinen Rucksack, es geht los.
In der Luft ist plötzlich etwas mehr Licht, als wir über die Felsen und durch die Priele gehen. In der Ferne hört man, wie die Flut kommt. Das Wasser zwischen den Felsen ist in Bewegung, der Wind jagt Seetang vor sich her. Ich laufe barfuß über den kalten Strand, über die nassen Steine, an der Stelle vorbei, wo wir gestern Abend Austern gefischt haben. Im ersten grauen Morgenlicht dieses Septembertags formen sie vage weiße Konturen auf dem dunklen Gestein. Ich würde noch schnell eine zum Frühstück essen, greife schon nach meinem Taschenmesser, kann mich jedoch beherrschen. Mit den Flipflops in der Hand trotte ich stattdessen hinter Jean Marie her.
Er stapft zielgerichtet zur Falle, die er gestern aufgestellt hat. Kein einziger Fisch ist drin. Schade. Dabei gäbe es zu dieser Jahreszeit richtig große! Zwei Stück seien erlaubt, die dürfe man mit nach Hause nehmen. Also, wenn ich dabei bin, vier Stück?
Schulterzuckend rollt er die Falle zusammen und verstaut sie in seinen Rucksack. Als er wieder Richtung Auto stiefelt, renne ich hinterher, die Flut kommt. Meine Füße sind kalt und voller Matsch.
Auf dem Rückweg durchs Dorf ist es fast hell. Es riecht nach Fisch im Auto. Das Aufstellen der Fallen, berichtet Jean Marie, habe er von den alten Dorfbewohnern gelernt. Sein Vater sei 93 und wüsste genau, wie man welche Fische fängt. Er würde gerne segeln und bade noch oft im Meer, auch bei Regen. Ich nicke, würde jetzt gerne einen Espresso trinken.
Wir gehen zum Zeitschriftenladen, die Stufen zur Terrasse hoch, Jean Marie erzählt, wie er mit seinem Vater und dessen Freund im Sommer baden war. Die Flut kam, sie konnten gerade noch stehen und bewegten sich Richtung Strand, als plötzlich der Vater rief, er hätte sein Gebiss verloren.
Wie verhält sich ein Gebiss im Wasser? Treibt es oben? Oder sinkt es sofort? Der Freund schob sich die Taucherbrille über die Augen, tauchte unter, nahm das eigene Gebiss raus und tat so, als hätte er es in den Fluten wiedergefunden. Jean Maries Vater lachte erleichtert auf und versuchte, es sich wieder in den Mund zu schieben. Es passte nicht. „Merde! Das ist gar nicht meins“, protestierte er angewidert und schmiss es so weit er konnte ins Meer hinaus.
Wir sitzen auf der kleinen Terrasse an der Straße im Wind, ich habe heißen starken Kaffee in kleinen Tassen geholt.
„Du siehst schon wie eine richtige Französin aus“, sagt Jean Marie. Ich überlege. Wie meint er das? Wie sieht eine richtige Französin aus? Zierlich, selbstbewusst, verspielt, elegant, mit einem Hauch von Erotik? Ich streiche mir die Haare aus dem Gesicht, nein, die Frisur kann es auch nicht sein.
„Franzosen haben dreckige Füße“, sagt er, trinkt seinen Kaffee und begrüßt den alten Mann, der gerade aus dem Geschäft kommt, Zeitung unterm Arm. Der Mann lächelt zahnlos, sagt, dass heute kein guter Tag zum Fischen ist. Deine Falle bringt nichts, Junge. Der Wind ändert sich gerade, und der Fuchs war am Strand. Er geht feixend die Stufen runter zu seinem alten Auto, das auf dem Zebrastreifen vor der Bar steht, steigt mühsam ein, startet, gibt Vollgas und braust weg. Ich sehe noch gerade die große, gut gefüllte Plastiktüte auf dem Beifahrersitz, an der Seetang klebt. Ich sehe den Fuchsschwanz am Spiegel.
Ich lehne mich zurück, strecke die Füße aus.
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