Ob sie beim Kehren meine Brille gefunden hätten, werde ich gleich die Gemeindearbeiter fragen. Durch die frühe Morgensonne hindurch laufe ich auf das orangefarbene Auto zu. Es ist neun, sie frühstücken im Wagen. Ich gehe zur Fahrerseite, dort ist das Fenster auf.
Ein Mann mit dem Aussehen eines Calvin-Klein-Unterwäsche-Models sieht mich irritiert an, das Leberwurstbrot in der Hand. Er hat die Arbeitsjacke ausgezogen und die Ärmel seines Hemdes hochgekrempelt, so dass man auch noch den tätowierten Oberarm bewundern kann.
Der Beifahrer schenkt sich Kaffee aus einer Thermoskanne nach und sieht aus dem Fenster.
Calvin beißt in das Brot, kaut. Er schluckt runter und sieht mich die ganze Zeit dabei an. Wir kehren nicht, antwortet er knapp, seine Zähne sind makellos. Wir schneiden Bäume.
Du Anfängerin, meine ich noch zu hören.
Du Gemeindearbeiter, denke ich hinterher. Ich bin mir fast sicher, dass mir die Brille aus der Jackentasche gefallen ist, als ich mit dem Moped ins Theater gefahren bin. Somit liegt sie irgendwo auf der Straße und wurde vielleicht gefunden. Aber diese beiden kehren also keine Straßen.
Wenn es mit der Model-Karriere nicht so hinhaut, wegen Heizkosten und so, kann man also immer noch bei der Stadt Aachen anfangen. Oder geht es hier um Stadtverschönerung? Das akzeptiere ich, dafür zahle ich gerne meine Steuern, auch wenn die Leberwurst mich stutzig macht.
Die Luft ist blau und die Bäume sind voller Herbstfarben. Blattgold tropft auf die Straße, der Wind wirbelt es wieder hoch.
Die Kraniche sind letztes Wochenende vorbeigezogen, an einem sonnigen Samstagnachmittag, als ich am Fußballfeld stand, nassgeschwitzt vom Fahrradfahren, und versuchte, meinen Jüngsten zu erkennen, der an der anderen Seite des Feldes hin und her rannte. Wen man nicht scharf sehen kann, sehen alle Siebzehnjährige in Fußballtrikots gleich aus. In der zweiten Spielminute fielen schon zwei Gegentore, damit war alles entschieden.
Ich guckte die Kraniche an, die mit lauten Trompetenrufen über das Spielfeld flogen. Der Himmel färbte sich orange, die Zugvögel zogen von Horizont zu Horizont, dann wurde es still und dunkel, das Spiel wurde mit 6:1 abgepfiffen und ich war so durchgefroren, dass ich auf dem Nachhauseweg mein Lenkrad nicht mehr spürte. Mein Sohn fuhr frustriert neben mir, durch die Nacht über die Vennbahn. Scheiß-Spiel.
Nachts hatte ich Schüttelfrost, dann Fieber, ich bin zwei Tage nicht aus dem Bett gekommen, habe nur dagelegen, Musik gehört, Bob Dylan, ist das Musik? Magie?, Ingwertee getrunken und Sudokus gelöst. Eins. Das Herz-Sudoku, das unfassbar schwer ist und das die Kinder mir zum Geburtstag ausgedruckt hatten. Ich versuche schon ein halbes Jahr, es zu lösen.
Ich war noch nicht geboren, da hörte ich schon die Lieder von Bob Dylan. Seine Texte sind fest in meinem Kopf. Ich kann sie mitsingen, ohne zu wissen, wieso. Ich kenne keine anderen Texte, die so tief berührend und unübersetzbar sind. Sie sind für mich der Sinn der englischen Sprache. Sorry, Shakespeare.
Gibt die Mutter ihren Kindern die Musik weiter, wenn sie diese in der Schwangerschaft häufig gehört und sich dabei wohl gefühlt hat? Hört das Ungeborene alles mit?
Meine Tochter ist Taylor Swift-Fan. Ich verstehe das nicht. Ich habe nichts gegen sie, sie gibt mir das Gefühl, in einer warmen Badewanne zu sitzen. Bob Dylan dagegen bringt mich durch einen wilden Herbststurm sicher nach Hause.
Ich laufe durch die weite Wiese hinterm Wald und sehe, wie eine Trasse mit Holzpflöcken abgesteckt worden ist. Ein Bagger gräbt eine Rinne quer über die Ebene. Wird hier gebaut? Entsteht hier eine neue Siedlung? Es ist Naturschutzgebiet, Wiese, Weißdornhecken und Wildvögel. Wenn man nach Norden schaut, sieht man Aachen, und im Süden liegen die dunklen Hügel der Eifel. Im Westen sieht man ein Kloster und dahinter Belgien und Holland.
Ich will mir die Arbeiten näher anschauen, gehe zur Ausgrabung und treffe dort zwei junge Männer an. Sie sind Archäologen und haben gerade eine römische Straße freigelegt, um sie zu dokumentieren. Sie laden mich ein, zu ihnen in die Grube abzusteigen, sie ist anderthalb Meter tief. Die Straße ist aus Steinen aufgebaut und hat oben einen Belag, der fest angedrückt ist. Ich sehe einen Querschnitt, sie ist gut erhalten. Sogar zwei Vertiefungen kann ich deutlich erkennen, geschätzt 1,20 Meter auseinander, das sind die Spurrillen. So stellen die Archäologen die Breite der römischen Wagen fest.
Auch Keramikscherben wurden gefunden sowie Reste von Siedlungen. Die Fachmänner meinen, der Fund stamme aus dem Jahr 15. Und jetzt? Was machen wir mit dieser römischen Stadt? Dokumentieren und wieder zuschütten, sagt einer von ihnen. Und dann weitergraben. Sie haben die Absicht, die gesamte Ebene hier zwischen Aachen und der Eifel zu untersuchen und aufzuzeichnen.
Die neuesten bildgebenden Verfahren erkennen, ob die Erdarbeiten sich lohnen. Sie erkennen Veränderungen im Boden, ohne dass gleich der ganze Acker umgebuddelt werden muss. Ich überlege, ihnen einen Kaffee vorbeizubringen, aber ich bräuchte mit meinen Gummistiefeln zehn Minuten, dann wäre er kalt. Sie haben bestimmt Leberwurstbrote dabei. Und Kaffee in der Thermoskanne.
Ich schaue noch eine Weile zu, wie sie alles ausmessen und aufschreiben, was sie finden. Ein Turmfalke fliegt über uns hinweg, vielleicht hofft er auf ausgegrabene Mäuse. Er wird von den Krähen verjagt, bewegt kurz die Flügel und schnellt elegant in die Höhe, die Angreifer hecheln hinterher.
Etwas weiter stehen Störche im Gras. Sie sind aus dem Aachener Tierpark, sie machen manchmal einen Ausflug hierhin, wie der Bauer erzählt hat. Ein weißer und zwei graue Fischreiher sind auch da, woher sie kommen, weiß ich nicht, sie wohnen bestimmt hier.
Ich verabschiede mich von den Archäologen, stelle mir vor, wie 2000 Jahre später Wissenschaftler meine Brille ausgraben. Sie wundern sich, was das für ein Artefakt ist, dokumentieren es, bringen die Brille ins Museum. Wenn es dann noch Museen gibt. Gibt es dann überhaupt noch etwas zu graben, wird es noch eine Erde geben? Und Menschen, die sich fragen, wie wir gelebt haben? Haben sie noch Gedichte? Geschichten? Musik?
Wir werden immer wieder geboren, damit neue Geschichten entstehen.
Es ist so, dass er, der nicht damit beschäftigt ist, geboren zu werden, damit beschäftigt ist, zu sterben.
That he not busy being born is busy dying.
It’s all right, Ma, it’s life and life only.
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