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Felsenkekse

Aktualisiert: 7. Jan. 2022

Es ist der erste Tag des Jahres, die Luft ist weich, es weht ein sanfter Wind, die blasse Sonne teilt sich den Himmel mit einigen Wolkenschleiern und ich fahre durch die verlassene Eifel. Die Dörfer sind sehr still, es liegen einige Feuerwerksreste auf den Straßen. Die Struktur der Landschaft ist viel deutlicher zu erkennen als im Sommer, wenn alles üppig grün ist.

Jetzt erkenne ich die dünnen Gerippe der Bäume, wie sie in der Landschaft stehen. Dünnes Haar, das es nicht schafft, einen kahlen Schädel zu bedecken. Ich sehe die Wiesen, die hohen Buchenhecken, die Baumgruppen und in der Ferne, tief im Tal, den Stausee.

Da wollen wir hin, das Wasser hat ein paar Grad und wir wollen schwimmen. Das neue Jahr mit frischer Energie anfangen. Das alte abspülen, neu geboren werden.


Der Parkplatz ist verlassen, der Hang, der zum See hinunterführt, rutschig, die Steine glatt. Meine Tochter greift sich die Thermosflasche mit Tee und die Handtücher, wir gehen zum Wasser, ziehen uns aus, waten hinein, erleiden fast einen Herzstillstand. Der Atem kommt nur ganz schwer, ich muss mir richtig Mühe geben, weiter zu atmen. Nach einigen Schwimmbewegungen merke ich, dass das Atmen besser geht, ich aber meine Haut nicht mehr wahrnehme, und schreie godvermiljardedju hoe koud het water is, das Echo rollt aus den Schieferfelsen zurück. Ich bilde mir ein, wie auf den Hängen Rollläden runtergelassen und Türen verschlossen werden, versuche, wieder aus dem Wasser zu kommen, was gar nicht einfach ist, weil ich kein Gefühl in den Füßen habe. Aber beim Abtrocknen fängt der Körper mit dem reboot an, tausende Nadelstiche, unkontrollierbarer Tremor, es geht mir wieder gut, könnte ich doch nur die Tasse ruhig festhalten und den Tee ausschenken.


Einige Tage später suche ich ein Anti-Programm und sehe nach, was unsere Aachener Thermen für Spezialprogramme anbieten. Es regnet ununterbrochen, ein richtiges Saunawetter. Als ich auf der Website die ayurvedische Massage anklicke, denke ich plötzlich an den Bäcker Manfred, der früher eine Bäckerei neben dem Kindergarten hatte. Er backte jedes Brot selbst, hatte unfassbar viel zu tun, sein Brot war weit über die Landesgrenze bekannt. Schon damals gab es sonntags eine lange Schlange vor seinem Geschäft.

Meine Kinder gingen in die Bäckerei, immer wenn ich beim Abholen zu spät war, und durften in der Backstube auf mich warten.


Als er genug gebacken hatte, ließ Manfred sich umschulen und wurde Ayurveda-Therapeut. Reiki, Yoga, Ernährungsberatung, Massage. Er baute ein Holzhaus mit schönen Praxisräumen, meditierte viel und fand ein ganz anderes Leben.


Kneten ist kneten, denke ich, und mache einen Termin bei ihm. Eigentlich habe er Urlaub diese Woche, sagt er, aber ich könne trotzdem vorbeikommen. Er freue sich, mich nach so langer Zeit wiederzusehen.

Als eins meiner Kinder anfängt, Kekse nach einem Harry-Potter-Rezept zu backen, und dabei die ganze Küche verzaubert, mache ich mich auf den Weg. Die Thermen in Aachen sind zwar schön, aber dort gibt es garantiert keinen Bäcker, der heilende Hände hat.


Als ich mich hinlege und Manfred ein Heilmantra singt, weiß ich, jetzt muss ich loslassen. Nicht denken, nur fühlen. Das warme Öl, die Musik, die Hände. Draußen ist es dunkel, es fängt zu schneien an. Ich denke an den Rursee, an die Schieferfelsen, und sinke noch tiefer in die Entspannung.


Am nächsten Tag bin ich müde, habe Kopfschmerzen und mir ist kalt. Das ist die Entgiftung, sagt Manfred. Ich solle Ingwerwasser trinken, das helfe bei der Entschlackung. Ich frage mich, wo das Gift steckt, ob es sich durch den Körper bewegt und im Blut nachzuweisen ist. Ich frage mich, wie so eine Schlacke aussieht und wie aktiv sie ist. Wo lauert sie in ihrem Versteck? Kann sie Macht über mich erlangen? Kann sie mich töten?

Hat das Gift etwas mit der Covid-19-Impfung zu tun? Ist man nicht mehr rein, sobald man eine Impfung bekommen hat? Geboostert wurde? Verliert man gar die pure Verfassung eines göttlichen Wesens? Göttliche Wesen lassen sich nicht impfen, die brauchen das nicht.


Aber inzwischen sind wir noch auf der Erde, hier wütet gerade ein Krieg. Die Erde dreht sich neben der Spur, die Menschen bekämpfen sich. Das Jahr hat gerade erst angefangen, und wir haben fast den Vorrat an Ressourcen, die bis zum Ende reichen sollten, schon wieder aufgebraucht. Der Lebensgefährte von Renate, meiner Klavierlehrerin, liegt schon zwei Tage in der Notaufnahme der Uniklinik, ohne dass ihm geholfen werden kann. Es gibt unfassbares Leid, tiefste Einsamkeit und erschütternde Angst.


Es ist gut, im Eiswasser zu schwimmen. Eine Tasse Tee zu haben, die einen wieder in die belebte Welt holt. Alte Freunde aufzusuchen, sich über ihre Unternehmungen zu freuen. Es ist gut, Vertrauen zu haben, Rücksicht, sich einfach impfen zu lassen.

Wenn man Glück hat, hat eins der Kinder Hagrids’ Felsenkekse gebacken und die Küche wieder aufgeräumt.

Die schmecken unfassbar gut zu einer Tasse Tee.


https://murali.be/

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