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Die Zeit auf der Seite

Autorenbild: katelijne7katelijne7

Die Seilbahn schnellt in die Höhe. Fünf Kilometer bis zur Zugspitze, dem höchsten Punkt Deutschlands. In jede Kabine passen 120 Personen. Oben ist die Aussichtsplattform, in einer Welt aus Eis und Schnee mit einem phantastischen Blick auf die Alpen. Die Berge zeichnen sich scharf gegen die blaue, kristallklare Februarluft ab. Der Schnee blendet, der Wind ist eisig.


In der Station gibt es ein wildes Treiben. Die meisten wollen nur das Eine: Skifahren. Raus in die weiße Welt der Berge. Die Landschaft ist fabelhaft, der Schnee liegt dick und fest auf den Pisten, die Weite öffnet einem das Herz. Die Luft ist pur, der Himmel so tiefblau, dass er fast unnatürlich aussieht.

Zwei Jugendliche sitzen unbeeindruckt auf einer der Holzbänke vor dem Panoramafenster, sie haben abgetretene Turnschuhe an und essen Chips. Sie scheinen sich an der Unruhe um sie herum nicht zu stören. Dort sitzen sie, ohne Funktionskleidung, ohne Skistiefel. Keine Sportgeräte, nur ihre Handys haben sie dabei. Sie scheinen die Flut, die sich auf Skistiefeln laut klackernd durch die Station bewegt, nicht zu bemerken. Schneeanzüge, Helme, Handschuhe, keine Ahnung. Schneebrillen, Stöcke und Boards, was soll’s. Träge essen sie die Chips und scrollen durchs Handy, während sie sich aneinanderlehnen.

Sie haben die Zeit auf ihrer Seite.


Ich muss das kontrollieren, sagt die Frau in der Berghütte. Gestern kamen zwei Typen mit gefälschten Impfpässen. Und wir können die Hütte zumachen, wenn sich bei einer Kontrolle herausstellt, dass den Sicherheitsvorschriften nicht korrekt nachgegangen wird. Sie reicht einem Gast einen Germknödel. What the heck is this? fragt der Holländer neben mir. Vanilla Sky, versuche ich. Ein Fantasy-Thriller, eine Liebesgeschichte, süß irgendwie. Er zieht die Augenbrauen hoch. Looks like a tit.

Eben, denke ich.


Eine Frau sitzt am Rand der Piste im Schnee. Sie winkt, ich fahre hin. Es ist das steilste Stück der Abfahrt, hier hat man einen großartigen Blick auf das Tal in der Nachmittagssonne. Das Knie, sagt sie, ich kann es nicht mehr belasten. Ich komme hier nicht weg. Und meine Tochter ist schon weitergefahren.

Ich rufe die Bergwacht an. Hallo, hier ist die Bergwacht, Ihre Koordinaten bitte. Ich halte zwei schnittige Skifahrer an, damit sie der Tochter Bescheid geben können. Die Frau beschreibt die Kleidung. Die Skifahrer nicken, setzen ihre Schneebrillen auf und schießen die Piste hinunter, weiße Wolken sprühen hinter ihnen auf, sie haben eine Mission. Eine halbe Stunde später kommt die Bergwacht mit einer Trage den Hang herunter. Ich verabschiede mich von der Frau, wünsche ihr alles Gute. Sie ist still und hat Schmerzen. Ich friere.


Ich muss alles alleine machen, es gibt kein Personal mehr, seufzt der Gastwirt abends, als er die Teller abräumt. Es war schlimm, aber seit Corona sei es noch viel schlimmer. Nur, diese Gaststätte ist mein Leben. Ich kann sie doch nicht einfach so aufgeben? Er rennt zum Nebentisch, um zu sagen, die Rechnung kommt sofort, bar oder mit Karte? Er schwitzt hinter der FFP2 Maske. Am Eingang steht eine Gruppe und wartet, bis die Impfnachweise kontrolliert werden können. Halten Sie Ihren Lichtbildausweis bereit.


Die Nacht ist klar, der Schnee schimmert, es sind sehr viele Sterne zu sehen. Es friert, Atemwölkchen und Eiskristalle begleiten mich auf meinem Spaziergang. Eine tiefe Stille liegt über der Berglandschaft. Ein Nachtvogel schreit in der Ferne.


Früher habe ich die Nationalmannschaft Feldhockey trainiert, sagt der drahtige Nachbar, als ich den Müll runterbringe. Es ist morgens, zehn Uhr, und er kommt schon vom Skilaufen zurück. Mit Fellen unter den Skiern läuft er vor dem Frühstück den Berg hoch, dort nimmt er die Felle ab und fährt dann runter, über die frisch präparierten Pisten, bevor die Lifte öffnen. Später trifft er sich noch mit einem Freund zum Langlaufen. Er ist 75 und ich frage mich, welche Drogen er zu sich nimmt. Frische Luft und Spaß an der Bewegung, liest er meine Gedanken. Er lacht und wünscht mir Servus.

Die Zeit steht kurz still.


Ich denke an die neue Seilbahn. Was für eine Leistung, so ein Transportmittel zu bauen. Fünfhundert Personen die Stunde schafft die Maschine auf den höchsten Punkt Deutschlands. Es gibt allerdings auch noch die Zahnradbahn, die 1930 ihre Jungfernfahrt hatte und immer noch fährt. Die Original-Holzsitze sind hart, schmal, man sitzt eng zusammen. Aber es gibt Hutablagen und man kann die Fenster öffnen. Eigentlich ist es interessanter, mit dieser alten Bahn zu fahren, auch wenn das letzte Stück durch den Berg führt. Im Tunnel ist es unheimlich. Die Zahnradbahn knarrt, als würde sie den Anstieg nicht schaffen.

Umso schöner ist die Ankunft. Die Luft, das Licht, die Sonne, aus dem Tunnel in die Freiheit. Ich denke an die Arbeiter, die diesen Tunnel Ende des 19. Jahrhunderts gegraben haben. Es muss unfassbar schwierig gewesen sein.


Skifahren ist schön, aber der beste Sport ist immer noch Fußball, sagt der durchtrainierte Nachbar zum Abschied. Er hat das Gesicht mit weißen Sonnenschutzstreifen markiert und packt das Material fürs Paragliding in seinen VW-Bus. Man braucht nur einen Ball. Unwichtig ist, wer du bist, wie alt, woher du kommst. Solange du mit einem Ball umgehen kannst, bist du dabei. Fußball verbindet die Welt. Jeder kennt die Regeln, man sollte mehr spielen, statt die Jungs in den Krieg zu schicken.


Er zieht den Reißverschluss hoch, hebt die Hand zum Abschied und steigt in den Bus.

Die Berge spiegeln sich still in seiner Sonnenbrille.


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