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die Lustreise

NR, fragt mein Sohn, heißt das neureich? So viele sind neureich. Steil!


Eine intelligente Dame sei zusätzlich ungeimpft und sportlich, ein zwei Meter großer Mann suche die Hälfte an Größe und Gewicht. Ich bin mir nicht sicher, ob er alles richtig liest in den Kontaktanzeigen. Ein toller Typ, ungeb., sucht eine Frau. Ungebildet? Er liest fasziniert weiter.


Es gibt nicht nur ungebildete, sondern auch intelligente Personen, schlanke und devote. Sie tragen Jeans und das kleine Schwarze, wollen reisen und Rotwein trinken, Boot fahren und wandern gehen. Ins Museum, ins Theater, in die Kunstgalerie, auf Augenhöhe. Sie wollen im Mondschein tanzen. Sonst hätten sie keine Probleme.

Boomer, sagt er.

Es gibt ziemlich viele davon. Sie scheinen sich aber nicht zu finden.


Organspender!, brüllt ein Boomer aus einem großen Auto einen Fahrradfahrer an, der ihn überholt, dort, wo das Auto im Stadtverkehr nicht weiterkommt. Ist das Neid? Auf das schnelle Vorankommen, auf die Organe eines Sportlers?

Schaltet er Kontaktanzeigen? Hat er eine erfolgreiche Praxis? Will er mit einer Geliebten am Strand spazieren? Rotwein trinken? Auto fahren?


Ich denke an den Sommer, an den Strand in Holland, ans Meer.

„Lena. Bei Fuß!“, ruft eine Stimme durch die stille Morgenluft. Es ist ein schöner Julimorgen, die Luft ist frisch, es ist erst halb acht.

Sabien, Sil und ich haben die Fahrräder bei den Dünen geparkt, wir sind über den Strand gelaufen, durch die Wellen getaucht und trocknen jetzt in der Sonne. Der Sand ist noch nass, keiner ist da. Außer Lena, die begeistert in den Wellen springt, dann stürmisch auf uns zugerannt kommt und sich schüttelt. „Fuß!!! Fuß!!“, ruft die Stimme wieder. Einige Möwen kreisen über uns. Lena rennt zu ihrer Begleiterin zurück, wir ziehen uns wieder an und gehen zum Strandcafé. Es hat noch nicht auf, wir setzen uns auf die leere Terrasse und reden über das Ölgemälde, das Sil gerade fertiggestellt hat.


Auf der Speisekarte steht nur Fleisch, und ein veganes Gericht. Ich winke die Bedienung, die gerade Vasen mit Wildkräutern auf die Tische stellt. Ich will nachfragen, wieso die Karte sich geändert hat, merke aber gerade rechtzeitig, dass ich die Hundekarte in der Hand halte.

Ein altes Ehepaar kommt im doppelten Rollstuhl Richtung Terrasse gefahren, sie bleiben im Sand stecken. Zwei junge Kellner stellen ihre Tabletts ab und schieben zusammen den Rollstuhl mit den beiden über die Rampe auf die Terrasse. Dann öffnet das Strandcafé.

Ich bestelle einen Kaffee. Das Paar im Rollstuhl zündet zwei Zigaretten an und sieht aufs Meer. Eine Wanderin kommt vorbei, mit einem Hund im Brustbeutel, der Schwanz hängt raus.

Der Sommer geht.


Es ist September, ich mache eine Lustreise, fühle mich im achtzehnten Jahrhundert. Das Wetter ist schön, es weht ein leichter Wind, die Spätsommersonne taucht alles in ein warmes Licht. Die alten Bäume tragen reife rote und gelbe Früchte, das Getreide wurde schon gemäht.


In Colonia kommt das Gefährt zum Stehen, es gibt ein Problem mit dem Wasser. Es war ein langer, trockener Sommer, die Pferde haben Durst, doch jetzt gibt es zu viel Wasser im Stellwerk. Der Rhein fließt schulterzuckend weiter.


Die Reisenden nach Norden müssen aussteigen. Die Sonne ist nicht mehr lange da, es kommen Wolken auf, bald wird der Norden nicht mehr zu erkennen sein. Nirgendwo gibt es Informationen. Es herrscht ein unruhiges Durcheinander.

Plötzlich hält ein ICE an. In Case of Emergency: Einsteigen!


Eine stilvolle, gut angezogene Frau sitzt am Fenster des Bordrestaurants und bestellt gerade die dritte Flasche Rotwein. Ich sehe einen doppelten Regenbogen über den Feldern. Die Sonne geht unter, verwandelt aber zuerst alles in Gold.

Ich zahle den fünffachen Ticketpreis. Allerdings könnte ich beim Service-Punkt eine teilweise Rückerstattung beantragen, behauptet die Person, die mir das teure Ticket andreht. Übrigens, die Deutsche Bahn habe mit den Problemen um Wilhelmsburg nichts zu tun! Das war ein Schiff! Ich nicke und zahle.


Ein Mitreisender setzt sich zu mir, wir sehen uns an. Diese Reise ist aufregend, sehr teuer und dauert lange, wie damals im achtzehnten Jahrhundert. Lass uns entschleunigen! Lass uns in Ruhe eine rauchen! Die Landschaft genießen! Auf Augenhöhe!

Ich erzähle von dem Doppelrollstuhl, von der gemeinsamen Zigarette an einem Sommermorgen am Strand. Er findet die Vorstellung des geteilten Glücks interessant. Oder ist es geteiltes Leid? Vereintes Glück?


Es ist schon Nacht, die Lustreise neigt sich dem Ende zu. Markus, der Mitreisende, muss noch weiter, ich bin ein wenig schwindelig, auch wenn wir keinen Wein getrunken haben. Das Bordrestaurant bietet ihn ja nur als Piccolo an. Außerdem gab es keine Gläser mehr, da das Wasser zum Spülen fehlte. (Und keine Heißgetränke).


Ich nehme eine S-Bahn zu den Landungsbrücken.

In der Elbe spiegeln sich unzählige Lichter, manche sind blau. Die Nacht ist ruhig, der Regen hat gerade aufgehört. Mit mir steigen zwei Amerikaner und zwei Engländer ein, sie machen zusammen einen Road Trip durch Europa, auf der Suche nach ihren deutschen Wurzeln, heute Abend wollen sie Fisch essen.


Did you hear about our Queen? She just died.

Don’t fuck with me!

I beg your pardon, dear?

I’m sorry. For your loss.


Ich bin NR und ungeb. Ich bin multilingual und reise gerne, befinde mich auf einem Boot und habe mit einem schlanken, gutaussehenden Mann auf Augenhöhe fast Rotwein getrunken und dabei philosophiert.

Ich bin unterwegs ins Thalia, denn morgen treffe ich mich dort mit Franziska, der Stadtschreiberin, und mit Heidi. Die Premiere von „100 seconds to midnight“.


Es ist fast Mitternacht, das Schiff tanzt im Mondschein auf den Wellen.

Die Elbe funkelt, die Lichter spiegeln sich im dunklen, bodenlosen Wasser. Der Nachthimmel ist wieder klar und spiegelt die Unendlichkeit.

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