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Die dunkle Schokoladenseite

Aktualisiert: 19. Apr. 2022

Das Mammoth Recovery Team legt in einem Park in Antwerpen Teile eines Mammuts frei, wie die lokale Zeitung im Internet meldet. Die Gärtner hätten den Fund bei der alltäglichen Grünpflege entdeckt. Sofort seien Spezialisten hingefahren, sie sitzen nun bei strahlendem Sonnenschein zwischen den Osterglocken und suchen keine bunten Eier, sondern die Überreste eines Urtiers. Auf dem Bildschirm kann ich es sehen. Vor etwa 150 Jahren wurden hier in der Gegend schon mal Reste von Mammuts gefunden, weshalb man jetzt davon ausgeht, dass der gefundene Schlagzahn eben auch 30.000 Jahre alt ist. Und es gibt vielleicht noch viel mehr zu entdecken. Die Untersuchungen laufen. Die Frühlingsluft ist tiefblau, es ist Ostersamstag, der junge Forscher lacht aufgeregt in die Kamera. Ich stelle mir vor, wie ein Maulwurf die lichtscheuen Augen beim Hören dieser Worte verdreht, wie er seufzt, er hätte das alles schon längst entdeckt, wie er sich umdreht und kräftig mit einer Hand gräbt, mit der anderen am Körper entlang den Sand wegschiebt und so schnell und samtig in die Erde verschwindet.


Es kommen einige Mails für das Stipendium Stadtschreiberin rein.

Was die minimale Anzahl von Wörtern sei, um an dem Wettbewerb teilnehmen zu dürfen, erkundigt sich jemand. Ich gebe die Frage an den Musiker Piet weiter. Er lächelt. Es muss das richtige sein, sagt er. Dann reicht das.

Eins, schreibe ich also zurück, ein Wort ist Minimum.


Ob der Wettbewerb nur für Frauen gedacht sei, oder ob dies der bedauernswerte Versuch sei, ein generisches Femininum einzuführen? Fragt mich eine weitere Briefschreiberin. Ich verstehe die Frage nicht, greife zum Telefon, rufe eine Avocado an, notiere mir die Antwort gleich in eine Mail zurück, dass das In eines Wortes nichts mit einer Identität zu tun hat. Mit Geschlechtern haben wir nichts am Hut, feuert die Avocado mich an und beendet etwas überheblich das Gespräch. Ich denke nach. Sie hat gut reden.

Ich öffne eine Flasche Riesling-Sekt, extra trocken, von Aldi, und zähle die Einsendungen durch, einige Männer sind dabei.






Auf der Fensterbank stehen Tontöpfe mit Erde. Die Demeter-Samen, die ich vor einiger Zeit gekauft habe und die mir Physalis-Pflanzen mit prächtigen Früchten versprochen haben, keimen zögernd und halbherzig vor sich hin. Die Pflänzchen, die aus der Erde lugen sind klein und so dünn wie ein Haar. Dabei habe ich sie schon vor zwei Wochen in spezielle Aufzuchterde gesät, ihnen einen Keimplatz auf der Fensterbank gegeben, die Erde locker und feucht gehalten. Und immer noch wollen sie nicht so richtig.


Es gibt eine Methode, um nachzusehen, ob Saat keimfähig ist. Man nimmt eine Schale Wasser, misst die Temperatur, tut die Saat hinein, misst wieder. Wenn das Wasser wärmer wird und vor allem noch eine Weile wärmer bleibt, sind die Samen aktiv. Sie wandeln ihren gespeicherten Zucker beim Wasserkontakt in Stärke um, das lässt die Temperatur ansteigen. Wenn die Samen eine schlechte Qualität haben oder tot sind, passiert nicht viel. Mir fehlt die richtige Messtechnik, um diese Untersuchungen durchzuführen.


Ich nehme den Rest der Samen aus dem Päckchen und lasse sie alle zusammen in einen weiteren Topf Erde fallen, hoffentlich ist mindestens ein starkes Exemplar dabei. Eine Pflanze, ein Wort. Schließlich ist heute Vollmond, der erste des Frühlings, dann wächst doch alles besonders gut, oder? Letztes Jahr hatte ich Physalis-Pflanzen hoch wie die Buchenhecke, mit tausenden Früchten, die nicht mehr reifen konnten, weil der Sommer zu kurz war, und die sich sogar nach dem Frost noch durchsichtig und filigran im Wind bewegten. Meine Avocadopflanze im Esszimmer wächst schon einige Jahre geduldig vor sich hin, mit schönen, dunkelgrünen Blättern, jedoch ohne Früchte.


Es gibt fachkundige Leute, die rechtzeitig säen und üppiges Gemüse ernten. In meinem Garten sind meistens die Schnecken schneller. Das will schon etwas heißen. Ich trinke das Glas Sekt in einem Zug aus. Ob morgenfrüh Ostereier im Garten liegen?


Ich habe mir eine Maulwurf-Lebendfalle angeschaut und frage mich, ob das Tier den Weg wiederfindet, wenn ich ihn im Morgengrauen einige Gärten weiter aussetze, barfuß durch das nasse Gras schleichend, bei kaum zwei Grad Außentemperatur, die Füße nicht mehr spürend. Um die Osterzeit kann ich das wagen, sonst eher nicht. Ich habe den Maulwurf in seiner Falle dabei, und auch ein Körbchen mit Eiern sowie Hasenohren auf dem Kopf, falls jemand mich sieht. Macht er eigentlich ein Geräusch in Gefangenschaft? Singt er im Käfig? Ruft er um Hilfe? Ich muss meine Tochter in Berlin besuchen und mit ihr ins Humboldt-Museum gehen, ins Tierstimmenarchiv, dort gibt es die einzige Tonaufnahme eines Maulwurfs weltweit.

Es gibt großartige Archäologen, die die Geschichte Hamburgs entschlüsseln. Ich lese in “Burgen in Hamburg”, fasziniert von der Geduld, der Intelligenz und der Kombinationsfähigkeit dieser Personen. Wie sie die Schätze freilegen, geduldig mit einem Pinsel, wie sie alles erkennen und dokumentieren. Ob man Maulwürfe dressieren kann? Wie viel einfacher würde das Graben gehen, sorgfältig, filigran zwischen den Erdschichten. Samtig die Erde wegbürstend.


Ich sei eine Geschichtenerzählerin, meint die Avocado. Nicht einmal Sekt würde ich mögen. Guacamole schon, denke ich.

Ich gieße noch mal die Pflanzen auf der Fensterbank, gehe raus, der Vollmond leuchtet in dieser Osternacht. Es ist kalt, ich stapele das Holz und die Tannenzapfen, zünde das Feuer an. Der Rauch zieht gerade in den Himmel hinein, zu den Sternen. Vielleicht finde ich doch noch Ostereier, morgen früh.

Belgische Schokolade, denke ich, dunkel, zart, bitter.


https://www.gva.be/cnt/dmf20220416_95875753






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