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Autorenbildkatelijne7

Der Rettungsgriff - Jetzt!

Aktualisiert: 15. Dez. 2022

Einen Milchkaffee, bestellt der bärtige Mann, der gerade in das Café gekommen ist und sich neben mich auf den Barhocker setzt. Die Bedienung sieht ihn fragend an.

Erbsen oder Hafer?


Wie bitte? Er guckt sich um, als ob er etwas verpasst hätte. Gemüse?

Das ist pflanzliche Milch, erkläre ich hinter meinem Glas Rotwein. Hier ist alles vegan.


Na gut, dann Erbsen, zögert der Typ.

Lena, antwortet die Bedienung, ich heiße Lena.


Einige Gäste sitzen mit aufgeklappten Laptops an den niedrigen Tischen und trinken Tee. Auf einem Sofa hinten im Lokal lehnen sich zwei Personen aneinander, sie sehen so aus, als wären sie eingeschlafen.

Ich habe Hunger, löffele Chile sin Carne, es schmeckt nach einer Art Pappe. Ich esse salzige Erdnüsse und beobachte, wie der Mann mit Bart den Kaffee bekommt, Zucker hineinschüttet und ihn skeptisch umrührt.

Ich nicke ihm ermutigend zu. Prost.


Er kippt ihn runter und bestellt auch einen Rotwein.


Wir drehen uns auf den Barhockern um, so dass wir durchs tiefe Fenster auf die Straße schauen können, stellen die Füße auf die Heizung und beobachten, wie die Passanten durch die vorweihnachtliche Finsternis huschen. Es regnet. Was er wohl beruflich macht? Weihnachtsmann? Rapper? Künstler? Prostituierter? Er nimmt eine verführerische Pose ein, dort im Fenster, aber keiner guckt. Wir bräuchten erstmal Rotlicht.


Gerade als er erzählen will, dass er bei Filmproduktionen für die Lichttechnik sorgt, verschlucke ich mich, weil ich zu schnell Erdnüsse gegessen und dabei geredet habe. Er springt auf, will den Rettungsgriff anwenden, ich winke ab, es sei nur ein Krümel.


Bist du sicher, dass du keine Erdnussallergie hast?

Damit hätten wir dann einen anaphylaktischen Schock. Schnell geht er im Kopf den Erste-Hilfe-Kurs durch, den er vor zwei Jahren absolviert hat.

Er dreht sich wieder um, lehnt sich nach vorne, sieht über die Theke, dort liegt ein kleines Messer, um die Zitronen für den Tee zu schneiden.

Luftröhrenschnitt? Bietet er mir an.


Dafür hätte ich ein besseres Messer, antworte ich, während ich hustend mein Weinlesemesser aus der Handtasche hervorhole und ihm reiche. Er klappt es auf und bewundert, wie gut es in der Hand liegt, er pfeift anerkennend ob der Schärfe.

Ich heiße Stefan, sagt er.


Wie war das noch mal, schneidet man horizontal oder vertikal?

Das Blut wird überall hinspritzen, es wird spektakulär, aber vegan ist es leider nicht.


Lena sieht uns alarmiert an, sie schenkt die Gläser noch mal voll, ich trinke und beruhige mich wieder. Stefan lässt das Messer zur Sicherheit aufgeklappt in Reichweite liegen. Er möchte keine Nüsse.

Lena macht nun die Kaffeemaschine sauber, sie wischt die Theke ab, im Café gibt es außer uns nur noch die schlafenden Personen im Sofa. Wir stellen fest, dass wir das gleiche Geburtsjahr haben, reden über einen Film, den er gerade gedreht hat, über seinen Bruder, der vor zwei Jahren gestorben ist.


Wir zahlen, ziehen die Mäntel an, verabschieden uns von Lena, laufen noch durch den nächtlichen Kiez. Es ist dunkel, kalt, fast Mitternacht. Der Regen wird Schnee jetzt. Die Autos stehen scheibenwischend an den Ampeln, kaum eines fährt. Abgaswolken steigen hoch. Atemwolken.

Er hat schöne Augen.


Ich will mit dir im Schlachtensee schwimmen, wünscht sich meine Tochter zum Geburtstag, als ich sie in Berlin besuche. Es ist Mitte Dezember, sie wird 25 und will schwimmen. Wir nehmen ein Handtuch und fahren mit der Bahn zum See. Es ist halb vier nachmittags und schon fast dunkel. Dort laufen wir unseren Atemwolken hinterher. Es gibt einige Spaziergänger an diesem Adventssonntag, sie haben warme Daunenmäntel an oder joggen in eisigen Wolken an uns vorbei.

Jetzt oder nie, sage ich mir.


Das Schwierige ist, sich auszuziehen, wenn es minus 2 Grad ist. Das Gehirn ist aktiv und windet sich protestierend, es versucht, wieder aus der Nummer herauszukommen. Hier muss ich stark bleiben. Ausatmen, nicht nachdenken.

Ich lasse die Klamotten auf dem Boden zurück und laufe zum Wasser. Es gibt keinen Weg zurück, das Gehirn seufzt und schaltet einige Bereiche schon mal ab. Ausatmen. Ausatmen. Ausatmen.

Die dünne Eisschicht am Ufer ist schnell durchbrochen. Der See ist zum Glück noch nicht richtig zugefroren. Einige Enten kommen neugierig angeschwommen. Wir haben kein Brot dabei. Wir schwimmen. Hier im Wasser erlebe ich echte Schwerelosigkeit. Ich spüre nichts mehr.


Auch nicht, als wir wieder am Ufer sind, beim Abtrocknen. Es ist, als würde ich eine fremde Person abtrocknen. Ist das echt mein Arm? Ist er gefühllos? Oder wie?


Zwei Tage später liege ich bei Peter, dem Zahnarzt, auf dem Stuhl. Er stellt eine Nervenentzündung in der Zahnwurzel fest. Bist du erkältet? Ohne Mütze los?

Mütze? Anfänger! Der Schlachtensee! Die Tränen springen mir in die Augen.


Es ist kurz vor Weihnachten, die Termine sind alle schon belegt. Du musst echt Schmerzen haben, sagt er. Ich schaue mal, dass ich die Wurzelbehandlung dieses Jahr noch anfangen kann. Vielleicht sagt diese Woche noch jemand ab.


Ich kann nicht antworten.

Ich hätte gerne einen Rotwein jetzt. Und gesalzene Erdnüsse. Ich möchte mich verschlucken. Ich brauche den Rettungsgriff. Oder wenigstens Gefühllosigkeit.

Peter sieht mich durch seine Stirnlupe an.


Wir kriegen das hin, sagt er.

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