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Backsteinkunst

Mein Tagesticket führt mich nach Hammerbrook. Ja, dort ist dieses Café, der Grund, nach Hammerbrook zu fahren. Es ist sofort erkennbar, willkommen in die Großstadt. Hier hat jemand verstanden, um was es geht. Wenn man hineingeht, findet man keine Kuschelatmosphäre, sondern die coolsten Leute aus den umliegenden Büros, die sich hier einen Kaffee holen. Hier trifft man sich, hier werden Kontakte geknüpft, Verträge geschlossen, Projekte ausgearbeitet, hier stimmt der Kaffee, man kann sogar zusehen, wie er im Nebenraum geröstet wird. Die neue Einrichtung ist urban, expressiv, gleichzeitig klar und einladend. Als wären auch hier Graffiti-Künstler vorbeigekommen. Kaffeerösterei Maya. Merken Sie sich das.

Ich gehe hinein, setze mich an meinen Lieblingsplatz vorm Fenster und beobachte die Nachmittagsspaziergänger in ihren Anzügen. Der Kaffee tut jetzt gut. Die Chefin Birthe Haase kommt zu mir, wir reden über die neue Einrichtung. Sehr gelungen, sie freut sich, ihre Augen strahlen.

Wenn ich wieder zur S-Bahn gehe, sehe ich ein neues Tier, an einer Mauer gesprayt. Es ist ganz klar ein Igel, von der Seite betrachtet, ein Auge, eine aufgerichtete Schnauze, ein paar Stachel. Das kleine schwarze Auge guckt mich direkt an. Ich bin mir sicher, als ich hier vor einer Stunde vorbeigekommen bin, war er noch nicht da. Ich gehe ganz nah an die Mauer und rieche an der Farbe. Sie ist frisch. Ich kann mich nicht zurückhalten, drücke meinen Zeigefinger auf die Stupsnase, aber die Farbe ist schon trocken. Plötzlich wird mir heiß. Was, wenn ich hier gerade ein Kunstwerk vernichte? Was, wenn Banksy himself hier in der Nähe ist? Und wenn ich meinen Fingerabdruck auf ein frisches Kunstwerk gesetzt habe? Vorsichtig sehe ich um mich, aber keiner scheint auf mich zu achten. Ich setze die Kapuze meines Pullovers auf, nehme ein Foto vom Igel und gehe schnell weiter.

Wahrscheinlich ist es kein Banksy, so rede ich mir ein, er macht keine Igel, soweit ich weiß. Er ist politischer als das. Küssende Polizisten, Soldaten mit Blumen, ein Mädchen mit einem Luftballon oder einer Atombombe im Arm, Ratten, Affen. Keine Igel.

Won ABC? Der würde keinen einfachen Igel sprayen, sondern die ganze S-Bahnstation Hammerbrook in Anakin Skywalker’s wildesten Weihnachtswunschzettel verwandeln.

Vielleicht Moses & Taps. Aber auch hier passt ein Igel nicht, sie machen eher Buchstaben, oder etwas in gelb-blau, oder sie mauern etwas in einer S-Bahn. Ich denke an The Wall ™. Das Video, das von der Aktion gedreht wurde, ist bis nach Japan irre populär geworden. Die Jungs haben sich als Arbeiter der Deutschen Bahn verkleidet, sie laufen wie im schlechten Film an der S-Bahn entlang, haben Kübel dabei, rühren den Mörtel an. Dann sägen sie Ytongsteinen zurecht und mauern einfach am hellichten Tag eine Tür der S-Bahn zu. Das Witzige daran ist, dass die Fahrgäste nicht einmal erstaunt sind, wenn später die Bahn angefahren kommt, die Tür aufgeht und eine Mauer zu sehen ist. In Gedanken versunken nehmen sie den nächsten Eingang, so als wäre es völlig normal, eine Mauer hinter der S-Bahn-Tür anzutreffen.

Gibt es etwas hanseatischeres als mauern? Die Backsteinbauten prägen Hamburg, und die Stadt bekommt einen Charakter dadurch. Gute Facharbeiter, die wissen, was sie tun, geben einer Stadt ein unverwechselbares Aussehen. Wie schade, wenn man beobachten muss, dass die Backsteinmauern immer mehr zugeklebt werden, um der neuesten Energieverordnung zu entsprechen.

Ich frage mich, wieso man sich über schönes Graffiti auf Betonpfeilern in der Stadt so aufregt, während man gleichzeitig ganze Stadtteile hinter langweiligen, nichts sagenden, charakterlosen Dämmschichten verschwinden lässt. Wie soll man jemals den schönen, typischen Backstein wieder freilegen, um den folgenden Generationen zu zeigen, wie Baukunst geht? Man kann ihn meistens nicht einmal mehr von den Schichten befreien, auch wenn man es denn wollte, denn die Dämmung wird oft einfach drauf geklebt. Mir richten sich die Nackenhaare auf, wenn ich an so etwas denke.

Die Häuser im Kontor-Viertel werden nicht so bald unter Schaumkunststoff verschwinden, die Speicherstadt hoffentlich auch nicht, aber was ist mit den Wohnhäusern? Backstein lebt, fühlt sich toll an, atmet und sagt etwas über die Virtuosität der Handwerker. Man sollte sich gut überlegen, was man eigentlich erreichen will, bevor man eine Dämmschicht an der Außenseite klebt, um irgendwelche Energiewerte zu erreichen.

Falls Sie etwas für die Umwelt tun wollen, brauchen Sie keine aufwendig hergestellte Dämmstoffe. Sie brauchen keine luftdichte Gebäudehülle. Die Häuser müssen noch atmen können. Vielleicht brauchen Sie einfach Kreativität und Freundschaft, um ein gutes Wohnklima herzustellen.

Nun, die Jungs mit der Mauer in der S-Bahn hatten nicht vor, etwas für das Wohnklima der Bahn zu tun. Sie wollten einfach ein Zeichen setzen, die Frage aufwerfen, was der Sinn einer Mauer ist. Sie wollten eine Diskussion. Die haben sie auch bekommen.

Meine Überlegungen über die Backsteinkunst in Hamburg führen mich zur Speicherstadt, dort ist die Elphi, nächste Woche bin ich wieder da. Ich sehe mein Spiegelbild im Wasser, wenn ich mich über der Jungfernbrücke lehne. Da ist der Moment. Ich springe hinein, tauche auf der Vennbahn in Aachen aus einer Pfütze wieder auf.

Die Runde ist fast zu Ende, ich habe das Gefühl, dass ich schwimme. Aachener Regen. Dauerlauf, Dauerregen. Es ist wärmer hier, der Wind ist sanfter, voller. Die Wolken sind langsamer, sie haben schon viel gesehen.

Zuhause gucke ich auf mein Telefon. Ich habe eine Nachricht von einem Freund bekommen, der fragt, ob ich mein Fahrrad für ihn mal fotografieren kann, ihm das Bild schicken, er will nachforschen, wann es gebaut wurde. Diamant, 1961, DDR, schreibe ich ihm, leicht eingebildet. Ich will noch das Bild anhängen, das ich die Woche davor aufgenommen habe. Ich bin so, ich knipse oft mein Fahrrad, es ist einfach schön. Die Form, der Rahmen, das Kettenblatt, vollendet. Wenn ich die Fotogalerie aufmache, erschrecke ich mich. Ich sehe das letzte Foto.

Es ist ein Igel, Seitenansicht, schwarz, auf eine Wand gesprüht.

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