Ich spaziere durch die späte Nachmittagssonne, am Bach entlang. Die Wiese ist nass, meine Stiefel sind schlammig. Die Frühlingsluft ist voller Vogelgezwitscher, es riecht nach Gras. Schneeglöckchen leuchten am Waldesrand. Mein Telefon klingelt.
Ob ich Lust hätte, heute Abend auszugehen? Wir könnten zusammen eine Pizza essen. Ein paar Bier trinken, reden. Ich überlege kurz, es ist gerade so schön draußen.
Am Telefon ist meine 80-jährige Klavierlehrerin, sie trifft sich donnerstags normalerweise mit einer Freundin in der Dorfkneipe, aber diese hat abgesagt, weil ihre Kusine aus der Pfalz zu Besuch ist. Es ist Altweiberfastnacht.
Ich zögere kurz, würde sie denn von mir erwarten, dass ich mich verkleide?
Nein, um Gottes willen, das bräuchte ich nicht. Ein buntes Tuch um den Hals würde reichen. Ich schweige.
Ich ziehe doch auch nichts Karnevalistisches an, versucht sie mich in Stimmung zu bringen, nur meine Jacke mit den Orden. Aber keinen Hut, ich komme gerade vom Friseur. Ich sage zu, was soll’s.
Kurz vor 18 Uhr klingle ich am denkmalgeschützten Bruchsteinhaus, Renate macht auf. Neue Haarfarbe, rote Glitzerbluse, Karnevalsjacke voller Aufstecker, einen Orden an einem bunten Satinband um den Hals, ein glänzendes, weites Regenbogentuch, rote High Heels. Kein Hut. Sie sieht mich an.
Khakifarbener Regenmantel, flache dunkelbraune Stiefel. Was soll das werden? Gehst du als Jägerin? Möchtest du meinen Schal, für die gute Laune? Sie reicht ihn mir, er ist bestimmt zwei Meter lang.
Nein, behalte du ihn doch, ich habe ja einen. Grau. Sie zieht die dünn gezeichneten Augenbrauen hoch, zieht die Tür zu, schließt sie ab und stöckelt neben mir her zur Kneipe. Leise klimpern ihre bunten Ohrringe.
Wie, du trinkst kein Bier? Nur Apfelschorle? Sie schüttelt den Kopf. Und gleich wieder, als ich eine Gemüsepizza bestelle. Sie will die Pizza mit mir teilen, und Gemüse hört sich für sie nach Krieg an. Keinen Schnaps dazu? Oder einen Wein? Sekt? Ich bestelle noch einen Espresso. Sie trinkt ihr drittes Bier. Sie hat sich vorgenommen, richtig zu feiern, und ich bin die Spaßbremse. Hilfesuchend schaue ich um mich. Gaby, die Bedienung, zwinkert mir zu.
Am Nebentisch sitzt die Freundin, die heute abgesagt hat. Sie unterhält sich angeregt mit ihrer Kusine aus der Pfalz. Sie lachen und trinken Wein. Da will ich mal nicht stören, meint Renate.
Es wird langsam dunkel draußen. Ich möchte durch den Wald laufen jetzt. Es ist sehr laut im Café. Die Leute feiern, sie haben gute Laune. Die Pizza schmeckt nicht, denn es liegen Möhren drauf. So richtig fade, meint auch meine Begleiterin, aber sie haben ja auch die Salami vergessen. Ich nicke.
Aber wir haben Karneval, und sie will feiern. Ich begleite sie zu dem Tisch, an dem die Freunde ihres verstorbenen Mannes stehen, wie schnell geht die Zeit, wa, jetzt ist er schon mehr als zwanzig Jahre nicht mehr da. Sie sind um die achtzig und prosten ihr zu. Sie bewundern die Aufstecker auf der Jacke. Lassen sich den Orden erklären, den sie anscheinend sorgfältig aus einem speziell dafür angefertigten Schrank ausgewählt hat.
Ich frage lieber nicht, wieso man einen Schrank für einen Karnevalsorden anfertigen lassen sollte, denn aus dem Gespräch wird klar, dass sie ungefähr 50 solcher Orden besitzt. Also einen Schrank voll. Die Typen trinken ein Bier nach dem anderen, erzählen von den guten alten Zeiten im Karnevalsverein und erkundigen sich nach Renates jetzigen Freund, der schon zweieinhalb Jahre im Pflegeheim wohnt und künstlich ernährt wird.
Heute habe er ein bisschen gefeiert, denn sie hat ihm eine große bunte Fliege umgebunden und eine Karnevalskappe aufgesetzt. Dann hat sie Lieder für ihn gesungen. Es habe ihm richtig Freude gemacht, sogar die Pfleger wären total beeindruckt gewesen. Alaaf!, ruft die Runde.
Ich bin die Einzige, die nichts trinkt und nicht lacht. Aber ich fange an, die Gruppe richtig zu mögen. Sie werden immer fröhlicher. Es werden dreckige Witze erzählt, die nächste Runde Bier kommt, Renate nimmt keck ein frisch Gezapftes und trinkt es leer. Sie strahlt.
Bleib du doch noch, versuche ich sie zu überreden. Den Weg nach Hause findet sich bestimmt. Aber sie möchte mich nicht allein durch die Dunkelheit gehen lassen.
Wir verabschieden uns von der fröhlichen Truppe und verlassen das Lokal. Der Westwind hat aufgefrischt, es liegt etwas Frühlinghaftes in der Luft. Es hat zu regnen angefangen, wir stapfen durch die feuchte Nacht. Sie schwankt ein bisschen. Ihr Haus mit den vielen kleinen Fenstern wartet geduldig an einem kleinen Platz. Sie umarmt mich feste. Ich warte, bis sie die Haustür aufgeschlossen hat und eingetreten ist. Die Tür fällt hinter ihr ins Schloss.
Weiter gehe ich durch die Nacht am Wald entlang, In der Dunkelheit leuchten still die Schneeglöckchen.
Ich gehe über die Brücke, durch die alte Stadt, die Treppen hoch, über den Friedhof.
Ich denke an die sorgfältig ausgesuchten Ohrringe, die sie trug. An die Schuhe, die genau die gleiche rote Farbe hatten wie die Bluse und der Lippenstift. Ich denke an die Freunde in der Kneipe, die immer wieder einen Kumpel verlieren, an Krankheit oder Tod, aber dennoch das Leben feiern. Sie treffen sich und trinken, sie freuen sich über die Freiheit, am Leben zu sein.
Auf dem Friedhof sehe ich im schwachen Schein der Laterne die schwarz-weißen Fotos von denen, die nicht mehr da sind. Sie schauen still in die Ferne.
Alaaf, flüstere ich, die haben euch nicht vergessen.
Foto: instagram (im Moment sanktioniert): @missliteratureclassic
Sehr schön, so eine nette Klavierlehrerin zu haben
wie immer sehr nette Geschichten des Lebens .
Schorsch