Als ich letzte Woche Geburtstag hatte, kamen meine Eltern vorbei. Ein gelbes Kanu war auf dem Dach ihres Wohnmobiles festgeschnürt. Sie sind über 70, sahen aber wie Hippies auf dem Weg zum Strand aus. Das Boot war das Geburtstagsgeschenk.
Es ist kein einfaches Boot, und schon mal gar kein normales. Es hat ein kleines Segel, das die Größe von dem eines Optimisten hat. Für den Fall, dass Wind aufkommt und man nicht wie blöd paddeln will. Der kurze Mast ist zusammenklappbar, mein Vater hat das Boot selbst gebaut. Er ist als Kapitän auf großer Fahrt um die ganze Welt gefahren, daher ist er praktisch veranlagt. Wieso sollte man den Wind nicht nutzen, wenn er schon mal da ist? Außerdem hat er an beiden Seiten Ausleger montiert, outrigger, sodass das Boot sicherer im Wasser liegt. Man kann segeln, es fühlt sich wie ein Katamaran und gleichzeitig wie ein Kanadier an.
In gelb.
Ich denke an die Dove Elbe, 18 km lang, und wie ich in meinem selbstgebauten Katamaran den Fluss entlangsegle, dort, wo die Gose Elbe in die Dove Elbe mündet. Ich könnte das Segel einklappen, sobald ich zu dem Bundessport-Leistungszentrum für Ruderer und Kanuten komme, denn ich wäre ja viel schneller als die Trainierenden, und das wäre nicht fair.
Die Frage ist, was muss ich bei einer möglichen Kontrolle vorzeigen? Einen Segelschein? Einen Schifffahrtschein für Binnengewässer? Oder für die See? Einen Reisepass? Bin ich mit meinem Gefährt ein Binnenschiff oder eher ein Sportboot? Vielleicht sollte ich die Wasserschutzpolizei vorab informieren. Dann müsste ich wahrscheinlich angeben, bis wohin ich segeln möchte, denn irgendwann wird eine Binnenfahrt eine Seefahrt. Das kann sich schnell ändern, zum Beispiel unter einer Brücke. Man befindet sich plötzlich nicht mehr auf einem Binnengewässer, sondern im Hafen oder gar auf See und hat den Übergang nicht bemerkt. Manchmal markiert eine Brücke den Übergang, zum Beispiel eine Eisenbahnbrücke, aber nicht immer. Außerdem gibt es zahlreiche Ausnahmen. Man muss schon wissen, was man tut, da draußen auf dem Wasser.
Ich telefoniere gerade für Baufritz, meinen Arbeitgeber. Der Gesprächspartner meint, er würde gerne bauen, findet aber kein Grundstück. In dem Moment, als er sagt, “aber sobald es losgeht, ruf ich an, ich habe euch auf dem Schirm”, sehe ich aus dem Augenwinkel, wie auf der Terrasse eine große Bewegung stattfindet. Es wird plötzlich viel heller. Der Sonnenschirm löst sich aus der Halterung, nutzt die Thermik und schwebt langsam und stattlich in die Luft.
Ich beende das Gespräch, gehe raus, sehe, wie einige Handwerker auf der Straße stehen und in die Luft zeigen. Wir schauen zu, wie der Schirm immer kleiner wird, und dann wieder größer, als er langsam zurückkommt. Es sieht sehr eindrucksvoll aus, es ist ein großer Schirm, der durch die Sommerluft segelt, mit einem Durchmesser von drei Meter fünfzig. Er verpasst knapp das geparkte Auto der Handwerker, schwebt Richtung Steilhang, dorthin, wo der Wind hergekommen war. Unten am Hang ist eine vielbefahrene Straße. Der Schirm bleibt in den Bäumen hängen.
Die Handwerker helfen mir, den Schirm zu befreien, wir kurbeln ihn zu und tragen ihn unversehrt nach Hause. Sie lachen erleichtert, denn der Flug ist gut ausgegangen. Ihr Auto wurde nicht beschädigt. Ich biete ihnen einen Kaffee an, sie möchten lieber ein Weizenbier jetzt. Ich spüle die Gläser mit kaltem Wasser, schenke das goldene Bier aus, die Schaumkrone ist weiß und fest.
Man muss den Wind nützen. Segeln ist eine Kunst. Der Schirm hat verstanden, wie es geht, er hat einfach abgewartet, bis die richtige Thermik aufkam.
Mein gelbes Boot hat einen Anker, ausklappbar und stark. Für den Fall, dass ich gerade eine Pause mache und vergessen habe, das Segel zu raffen, und eine unerwartete Windböe aufkommt. Ich würde schnell vorwärtsgetrieben werden, immer schneller, vor allem bei Ostwind gegen den Strom die Norderelbe hoch. Unter die Elbbrücken hindurch. Unter die Eisenbahnbrücke, plötzlich in die Gebiete der Seefahrt hinein. Mit wehendem Haar an der Elbphilharmonie vorbei, zu den Landungsbrücken, zum Fischmarkt, zwischen den Containerschiffen hindurch.
Die Wasserschutzpolizei wäre in wichtigen Sachen vertieft, sie hätten mich zu spät gesehen. Ich würde bis zur Grenze zu Niedersachsen segeln und endlich im Windschatten der verlassenen Insel Neßsand das Segel zusammenklappen können. Dann würde ich Crusoe-artig an Land gehen und das Boot in den Büschen verstecken. Dort warte ich, bis es dunkel wird.
Es ist eine dieser Sommernächte, die voller Zauber sind. In der ersten Hälfte des August sind unfassbar viele Sternschnuppen zu sehen, die Tränen des Laurentius.
Unter dem klaren Sternenhimmel fahre ich mit kräftigen Ruderschlägen zur Este-Mündung, in die Este hinein, immer weiter stromaufwärts durch das mondbeschienene Alte Land. Das Wasser der Este ist weit und still, einige Nachtvögel segeln tief. Der orangefarbene Himmel über Hamburg liegt weit hinter mir, vor mir ist nur Dunkelheit. Eine samtene Nacht spannt sich über dem ruhigen Moor. Die Weite nimmt mich auf, die Unendlichkeit, ich bin schon ewig hier. Die Sommernacht spricht mit dem Duft von Brombeeren und Wasserminze. Dort sind fast reife Äpfel, und Gräser wiegen sich im Wind. Ein Käuzchen spielt Gespenst. Der Anker liegt hinten im Kanu verstaut, ich brauche ihn nicht.
Ich fahre weiter, immer weiter, mit einem gelben Kanu in die Unendlichkeit hinaus.
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