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Awful Coffee

Aktualisiert: 9. Dez. 2020

Ich trinke Jasmintee, höre Awful Coffee von John Scofield. Gleich muss ich zum Zahnarzt, Wurzelbehandlung, und ja, ich kenne die Gefahren. Erscheinungen wie Müdigkeit, schlechte Laune, psychische Störungen, alles kann auf Entzündungsherde, die nach einer Wurzelbehandlung entstehen, zurückzuführen sein. Heilpraktiker fragen meistens als Erstes: „Haben Sie wurzelbehandelte Zähne?“ Wenn die Antwort ja lautet, ist man vielleicht selber schuld an seinem Leiden.

Ich habe einen sympathischen Zahnarzt, der sich auf zahnerhaltende Maßnahmen spezialisiert und mich ausführlich beraten hat.

Ich trinke also keinen Kaffee vorher, denn ich will einen angenehmen Atem haben, nach Jasmin duftend. Vielleicht hilft das ja. Ich verspüre Herzrasen. Morgens um acht auf der Liege, auf dem Rücken mit aufgespreiztem Mund, Kofferdam und Haken in den Mundwinkeln, bin ich keine Heldin –was Kofferdam ist? Wikipedia: korrekt Cofferdam von englisch coffer ‚wasserdichte Struktur‘, ‚Verkleidung‘ (im Schiffsbau) und dam ‚Deich‘, ‚Dämmung‘, auch Rubberdam (…)zur Abschirmung des zu behandelnden Zahns vom restlichen Mundraum, insbesondere bei einer Wurzelkanalbehandlung.

Der Zahnarzt und die Assistentin beugen sich mit Lupe, Mikroskop, Pro-Glider und unglaublich feinen Instrumenten über mich, ich schließe die Augen, bleibe regungslos liegen, denke an Hamburg, an Wasser, Freiheit, Schiffe. Die Betäubung ist toll. Einige Stunden gehen vorbei. Zum Glück bespielt dieser Zahnarzt mich nicht mit Vogelgezwitscher und Bachrauschen, das wäre jetzt zu viel. Ich will nach Jazzmusik von Thelonious Monk fragen, aber ich kann den Namen gerade nicht gut aussprechen.

Nach der Behandlung gehe ich langsam und ein bisschen schummrig zu Folke. So heißt die Ehefrau des Zahnarztes, sie sitzt in ihrer frisch-fröhlichen Art am Empfang und hat gute Laune. Die Sympathie in Person. Folke, sag ich, dein Mann weiß, was er tut. Ich habe es mir viel schlimmer vorgestellt. Sie lacht. Der Peter liebt das. Wurzelbehandlungen sind seine Leidenschaft. Nun ja, denke ich. Nun ja. Ich will noch etwas Schlaues sagen, aber mir fällt nichts ein, ich bin noch zu leicht im Kopf, verabschiede mich. Bis in zwei Wochen.

Abends telefoniere ich mit meiner Tochter Sophie, sie segelt gerade im Norden von Norwegen, um die Inseln dort von Müll zu befreien. An einem Tag sammeln sie und der Rest der Besatzung bis zu 3 Tonnen angespülten Unrat ein. Der Verein, mit dem sie unterwegs ist, heißt in the same boat. Wenn Sturm ist, können sie nicht rausfahren, dann sitzen sie unter Deck und stricken oder kochen. Es gibt oft Sturm, und es ist kalt im Norden, jetzt in der Septembersonne nicht mehr als 10 Grad.

Das ist die neue Generation. Sie säubert die Ozeane und strickt. Sie trinkt Tee und backt ihr eigenes Brot. Ist das die Rebellion? Ich habe das Gefühl, dass die Vergangenheit mich einholt. Meine Mutter ist die beste Strickerin der Welt. Meine ganze Kindheit trug ich selbstgestrickte Pullover. Sie gingen nicht kaputt, nie. Sie wurden von Kind zu Kind weitergereicht, und dann zu den Verwandten nach Schottland verschickt. Es gibt sie immer noch, unverwüstlich lagern sie irgendwo in einer Kiste, die Pullis. In vielen Kisten. Und nach einem halben Jahrhundert pieksen sie immer noch am Hals.

Ich überlege, was Sophie auf dem Schiff gerade strickt, in welchen Farben (ich kann’s mir vorstellen, Backstein, Erde und Schlamm), und was ich zu Weihnachten geschenkt bekommen werde.

Spätsommer in Norwegen

Über Weihnachten rede ich am nächsten Tag mit einer Lerngruppe aus der Eifel. Sie sind zwischen 60 und 75 Jahre, und ich war ihre Englischlehrerin im Samstagsunterricht. Es ist ein warmer Spätsommertag, wir treffen uns in einer Gaststätte im tiefen Wald. Die Landschaft ist felsig, die Wege sind sehr steil, es stehen unheimliche Tannen auf den Hängen und stattliche Buchen in den Tälern. Kein Verkehr ist zu hören, eine Gruppe Mountainbiker sitzt an einem langen Holztisch, sie trinken Weizenbier und unterhalten sich laut und voller Begeisterung über die fabelhaften Abfahrten. Die Sonne verschwindet schon hinter den hohen Bäumen, es wird plötzlich ziemlich kühl. Die Rur fließt an der Terrasse entlang, die Bäume rauschen, die Vögel zwitschern. Ich kann aber nicht sagen, welche es sind, ein Specht ist nicht dabei.

Hier geht das, Vogelgezwitscher und Bachrauschen. Ohne Zahnschmerzen kann man das ertragen. Der Kaffee schmeckt schrecklich.

Die Englischgruppe hat mich letztes Jahr in Hamburg besucht, als ich Stadtschreiberin war. Es war ein wildes Wochenende, sie haben bei der Alsterrundfahrt um Tickets gefeilscht, indem sie darauf bestanden haben, eine Rentnertruppe zu sein und somit rabattfähig, obwohl mehr als die Hälfte von ihnen noch mitten im Berufsleben steht. Sie haben so clever gehandelt, dass sie nicht nur die Bootsfahrt, sondern auch noch eine Stadtrundfahrt mit dem Bus zum Sonderpreis bekommen haben.

Das Lokal, in dem wir uns befinden, war früher eine Disco, erzählen sie mir. Dort ist man hingelaufen, stundenlang durch den dunklen Wald. Klar, manchmal traf man einen komischen Vogel unterwegs. Wo es das nächste Telefon gab? Dort, wo man auch einkaufen konnte, ein bis zwei pro Dorf. Eine der Damen sieht mich verwundert an. Wir wollten Spaß haben und tanzen, doch nicht telefonieren.

Ich merke noch ein Ziehen im Mund, will aber das Thema Zahnmedizin nicht zur Sprache bringen, damit kann ich hier am Tisch nicht gewinnen. Ich werde bestimmt sofort übertrumpft.

Ich sehe in die Runde. Wald, Feld, Disco. Keine Anrufe, keine Chats unterwegs, keine Rechtfertigungen, nichts, das verpasst wird. Keine Fotos. Der Moment an sich. Improvisieren, wenn etwas schiefläuft.

Vor langer Zeit haben sie hier gefeiert, sie sind unter einem weiten Sternenhimmel nach Hause gelaufen, die steilen Berghänge hoch, durch die endlosen Wälder, mit Herzrasen und Bachrauschen. Berauscht. Vom Tanzen.

Es wird immer kühler, das Gespräch handelt jetzt von Weihnachten und davon, dass Anfang September bei 34 Grad die Lebkuchen bei den Discountern liegen. Tagsüber kann man sich Weihnachten überhaupt nicht vorstellen, aber sobald die Dämmerung fällt und die Kälte aus den Gewässern hochkriecht, schon, vor allem in der Eifel im düsteren Tannenwald. Wir reden darüber, wie der weiße Glühwein besser schmeckt als der rote, aber nur, wenn er vom Winzer kommt. Ein Nachtvogel schreit lange und schrill.

Ich habe keine Socken an und friere, dort auf der Terrasse an der Rur. Eine der Damen leiht mir ihre Jacke, die ich um die Beine schlage. Ich denke an meine Tochter und meine Mutter, die nie frieren. Hier in der Kälte hätten sie garantiert Wollsocken dabei, und einen Schal.

Auch wenn sie nie die Musik von John Scofield hören, und schon mal gar nicht die Klänge von Thelonious Monk, kennen sie jeden Vogel.


Fonn

in the same boat


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