Kleider werden in fernen Ländern produziert, sie kommen in Containern im Hafen an, sie reisen weiter über das Straßennetz, werden in Lagerräume untergebracht, gleich weiter an Geschäfte und online-Kunden verteilt. Später kommen sie in die Altkleidersammlung und werden wieder aus der Stadt gebracht, in Containern, sie kommen auf ein Schiff, sie werden in ferne Länder gefahren.
Die Entwerfer denken sich neue Schnitte aus, sie suchen die richtigen Materialien, sie suchen die richtigen Menschen, die die Kleidung herstellen können. Verpacken. Verteilen. Mit den richtigen Wörtern und Bildern, so dass jeder das Gefühl hat, das ist genau der Stoff, den er jetzt braucht, die Kleider, in denen er sich glücklich fühlen wird. Kleider, die die Identität unterstreichen.
Eine Flut an Stoffen, Garn, Knöpfen, Reißverschlüssen, Schnitten, Fetzen spült durch die Stadt.
Meine Eltern haben im Winter 1970 geheiratet, als das ganze Land unter einer Schneedecke ruhte. Sie waren blutjung, meine Mutter noch keine 21. Die Kapitänsuniform meines Vaters, die Braut im schlichten Kleid, der verliebte Hippieblick. Sie hat die langen honigfarbenen Haaren hochgesteckt, eine kleine weiße Blume oben drauf. Sie ist still, sieht auf den Fotos ruhig und souverän aus, wahrscheinlich stört sie nicht einmal ihre Mutter, die als goldene Kugel am Tisch sitzt.
Ihre Mutter hat eine maßgeschneiderte goldene Bluse an, mit unzähligen Pailletten bestickt, in Handarbeit. Oma glitzert wie die Sonne, wie Ludwig der 14., Frankreichs berüchtigter Sonnenkönig, der in einer Balletaufführung 1653 im Louvre tanzte. In diesem “Ballet Royal de la Nuit”, symbolisierte er die Sonne, den einzigen Sonnenkönig, den Lichtbringenden, den von Gott geschaffenen Herrscher.
Omas’ frisch ondulierten Haare stehen wie ein Strahlenkranz vom Kopf ab, und bei jeder Bewegung tun die Augen der Hochzeitsgäste weh. So tritt sie auf, als das erste ihrer 5 Kinder heiratet. Um sie herum die stille Schneelandschaft, die Ruhe zwischen den Jahren, das klare Winterlicht, das junge Brautpaar, mein Bruder schon auf dem Weg.
Gab es Musik damals beim Hochzeitsessen in den 70-er Jahren? Was wurde gespielt? Bob Dylan vielleicht, Lay Lady Lay ist das Lieblingslied meiner Mutter. Ich lege die Platte auf den Plattenspieler, den Henry für mich repariert hat, setze vorsichtig die Nadel am Anfang, drehe den Knopf, die Nadel sinkt langsam ab, ich höre rückwärts in die Zeit. Das Lied ohne Cover-Version, so Eric Clapton, eine vollendete Ballade.
Nun, vielleicht nicht das perfekte Lied für das Hochzeitsessen.
Musik braucht Leidenschaft. Zur Zeit des Sonnenkönigs gab es den phantastischen Künstler Giovanni Battista Lulli. Am Hof änderte er seinen Namen in Jean Baptiste Lully. Er war Komponist, Geiger, Tänzer. Er starb bei der Arbeit, als er mit einem schweren Kupferstab den Takt schlug und dabei in voller Eifer seinen Zeh traf. Der wurde so stark verletzt, dass er sich komplett entzündete, und eigentlich abgenommen werden musste. Lully: ein Tänzer lässt sich keine Zehen wegnehmen. Kurze Zeit darauf erlag er seinen Verletzungen.
Der Vater meiner Mutter häkelte Tischdecken. Er war ein zarter, ruhiger Mann, mit einem langen Gesicht und leuchtenden Augen. Er häkelte bei klassischer Musik am Sonntagvormittag, ab und zu hörte er Jazz. Er wollte die Fingerfertigkeit üben, denn er war Zauberer und trat als “Prof. Wings” auf. Er konnte Sachen verschwinden lassen, andere herzaubern, er fand verschwundene Leute und abhandengekommene Fahrräder wieder. Er hatte viele Patienten und las deren Krankheiten, als hätten sie die Beschreibung auf der Stirn stehen. Er trank Schnaps nach der Behandlung, um wieder Kräfte zu sammeln, und legte sich 20 Minuten hin. Die Patienten nahmen für eine Behandlung bei meinem Großvater sehr weite Wege auf sich.
Es muss etwas mit seiner Ausstrahlung zu tun haben, vielleicht mit den Augen, die so aussahen, als würden sie im Dunkeln leuchten.
Auf den Hochzeitsfotos meiner Eltern sieht man ihn nur am Rande, nachdenklich, er hatte schmale lange Hände. Er kannte sich mit Heilpflanzen und Fossilen aus, nicht mit maßgeschneiderten goldenen Blusen. Schon mit Schuberts‘ Winterreise.
Wie hat der Sturm zerrissen Des Himmels graues Kleid ! Die Wolkenfetzen flattern Umher im matten Streit
Wo holt ein Modedesigner die Inspiration? Aus der Natur, sagen einige. Wie kleiden Bäume sich im Januar? Ich gehe über einen Feldweg und sehe die Pflanzen, die über den Bäumen und Hecken wuchern. Sie haben leichte und unfassbar schöne Fruchtschöpfen, hier tobt die gemeine Waldrebe. Gut, so denke ich, wir kleiden uns im Winter mit Wucherpflanzen, die flauschigen Knäuel sind wollweiß und hoch romantisch, wir können dazu die Winterreise hören und über unsere menschliche Existenz nachdenken. Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh’ ich wieder aus.
Es ist gut, in sich zu gehen, vor allem zwischen den Jahren, sich fremd zu fühlen, zu wissen, dass man nicht immer mehr braucht. Eine Zeit für Besinnung, für Einkehr. Räumen Sie auf, leeren Sie den Vorratsschrank, fangen Sie die Mehlmotten ein, wünschen Sie ihnen mehr Glück im nächsten Leben. Sortieren Sie aus, was Sie nicht mehr brauchen. Sie müssen nicht alleine auf Wanderschaft zu gehen, laden Sie Ihre Freunde ein, sie brauchen Sie. Jeder braucht Zauberei im Leben, und was ist Freundschaft sonst? Ein Zauber, leise und zurückhaltend, stark und widerstandsfähig, wunderschön wild wie die gemeine Waldrebe im Januar.
Gute Kleidung ist einfach zu schön, um nur kurz getragen zu werden und wieder in Containern zu verschwinden. Geben Sie den Kunstwerken aus Stoff und Zwirn, was sie verdienen, fassen Sie sie an, lassen Sie sie an Ihre Haut. Es gibt wunderschöne Kleidungsstücke, die bewundernde Blicke brauchen. Es gibt gute Schnitte, die von achtsamen Händen ausgeführt werden.
Es gibt phantastische Stoffe, die Leidenschaft wecken.
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