Die Frauen fädeln die langen Nadeln durch die Ösen. Dann legen sie Knoten. Sie haben Kleider der 60-er Jahren an, auch die Frisuren sind aus dieser Zeit. Sie sitzen in Reihen gegenüber einander und nebeneinander, ernst, schweigend, sie arbeiten hochkonzentriert, sie weben. Es irritiert, dass sie nicht dabei reden, und keinen Stoff bearbeiten, dass die Umgebung sehr technisch ist, überall sind Maschinen und Kabel zu sehen.
Diese Frauen sind die besten Handwerkerinnen Amerikas, sie legen einen Speicher für einen Computer an. Das Signal von einem Wortleitungsdraht, der durch einen bestimmten Kern verläuft, wird mit dem Bitleitungsdraht gekoppelt und als binäre „Eins“ interpretiert, während ein Wortleitungsdraht, der den Kern umgeht, nicht mit dem Bitleitungsdraht gekoppelt und als „Null“ gelesen wird, so Wikipedia.
Dieser Speicherplatz wird angelegt, um den Computer stark genug zu machen, die Mondreise zu steuern. Die Näherinnen legen die Muster aus 0 und 1 an, für ein Programm brauchen sie mehrere Monate. Hier ist viel Erfahrung, Geduld und unfassbar viel Geschicktheit gefragt.
Dass man es LOL memory nannte, Little Old Lady memory, ist heutzutage undenkbar.
Wo weitere Frauen einen fundamental wichtigen Beitrag zum Mondprojekt geliefert haben, ist beim Nähen der Raumanzüge. Wie stellt man einen Anzug her, der stark bis zum Mond und wieder zurück ist und trotzdem leicht? Vor allem auch so flexibel, damit man auf dem Mond tanzen kann? Es kommt darauf hinaus, dass fast alles Handarbeit ist, präzises Nähen vieler Schichten, natürlich von Frauen. Und es war keine Sportfirma, die den perfekten Raumanzugstoff lieferte, keine Segelfirma, kein Spezialist für Membrane, es war ein Hersteller für Büstenhalter, der es letztendlich geschafft hat.
Aber die Handwerkerinnen haben das Projekt Mondlandung nicht alleine hinbekommen. Es gab auch die ungefähr 50 farbigen Frauen, die eine unverzichtbare Recheneinheit formten, die Computer wurden ja gerade erst entwickelt. Kopfrechnen mit Rechenschieber war unfassbar wichtig, die Begabung und das Verständnis dazu hatte vor allem diese Gruppe von Frauen.
Weiter gab es ungefähr 400.000 Ingenieurinnen und Ingenieure aus der ganzen Welt, die sich am Projekt beteiligten. Präsident Kennedy hatte gemeint, sie sollten zum Mond fliegen, ihn betreten und gesund wieder zurückkommen. Was damals unmöglich und völlig absurd schien, wurde dennoch angepackt, die Fachleute setzten sich zusammen um diesen großartigen Plan umzusetzen. Da es fast 400.000 Kilometer bis zum Mond sind, denke ich, jeder Ingenieur bekommt einen Kilometer, für den er verantwortlich ist, den Rest machen die Rechnerinnen und die Näherinnen.
Ich sitze jetzt in den Bücherhallen, in der Zentralbibliothek der Stadt Hamburg. 400.000 Bücher. Jedem Ingenieur ein Buch. Ich bin heute morgen später gekommen, als ich wollte, die S-Bahn hatte eine elektrische Störung. Mit dem Fahrrad und purer Muskelkraft wäre ich schneller gewesen. Wenn man in der S-Bahn sitzt, und sie steht still auf dem Gleis, nervt das total, aber es ist eigentlich nicht schlimm. Wenn man um den Mond kreist, wie Apollo 11, und landen möchte, wenn das Computerprogramm dazu gerade frisch geschrieben wurde, und noch nicht getestet, ist das eine andere Sache.
Ein 22-jähriger Student mit langen Haaren, einer Brille und einem Flaum auf der Oberlippe hat das Programm geschrieben. Ohne dieses Computerprogramm wäre es unmöglich gewesen, auf dem Mond zu landen.
Kurz vor der Landung auf dem Mond gab es einige Fehlermeldungen. Welche, die keiner kannte, sie hießen 1201 und 1202. Die Ingenieure in Ground Control haben verzweifelt nach der Bedeutung dieser Fehlermeldungen gesucht. Die Frage war, ob sie trotzdem landen sollten, das Zeitfenster, in dem es möglich war, war nicht ganz so groß. Als die Spannung immer mehr anstieg, und alle weiße Hemden schon durchgeschwitzt waren dort in der Basis, als die Krawatten gelockert waren und die Taschentücher vom Schweiß auf der Stirn durchnässt, kramte einer der Ingenieure einen handgeschriebenen Zettel aus der Ecke, wo diese Fehlermeldungen zwischen einer ganzen Reihe anderer Meldungen erwähnt wurde. Was war falschgelaufen? Es gab nicht genug Speicherplatz. Da das aber keine Priorität hatte, konnte die Landung dennoch durchgeführt werden.
Das geniale Programm hat dafür gesorgt, dass Unwichtiges erstmal beiseite geschoben wurde und Wichtiges immer weitergeführt werden konnte. Daher hatte dieser Fehler keine weiteren Folgen für das System. Die Astronauten hatten vor der Landung den Rückweg schon programmiert, da hat der Computer gestreikt. Es war zu viel Info auf einmal.
Aber die Landung konnte stattfinden, Neil Armstrong und Buzz Aldrin stiegen aus der Landekapsule Eagle auf den Mond, wir alle kennen diese Bilder. Michael Collins kreiste inzwischen in der Kommandomodule Colombia einige Male um den Mond herum, bis zu meinem Lieblingsmanöver der amerikanischen Raumfahrt: das Lunar Orbit Rendezvous.
Am Anfang steht der Wille.
Die Begeisterung, die Entschlossenheit, das Unmögliche zu tun. Die Menschen, die dieses Projekt mit ihrer Kraft und ihrem Willen möglich gemacht haben, haben sich für ein Leben im Zeichen der Wissenschaft entschieden. Die Energie beeindruckt mich, das Zusammenarbeiten, die Inspiration, einen Traum zu verwirklichen, und dabei den persönlichen Lebensentwurf beiseite zu schieben. Während der Mondmission sind viele Ehen gescheitert.
Es braucht inspirierte Menschen, die über den eigenen Zielen stehen, sich selbst in ein größeres Projekt aufnehmen lassen. Das eigene Ego wird weniger wichtig, das große Ziel steht klar zwischen den Sternen.
Jetzt sitze ich hier zwischen all den Büchern und überlege mir, was mache ich diesen Monat. Eine Reise zum Mond planen ist eine Nummer zu heftig, aber vielleicht kann ich noch eine sechste Sprache lernen. Oder endlich mal versuchen, die mathematischen Gleichungen zu erarbeiten, die ich in der Schule nie verstanden habe. Dann könnte ich mit meinem 14-jährigen Sohn an Weihnachten wieder Mathe üben, etwas, was bis jetzt nur die älteren Geschwister schaffen. Ich kann die Quantenphysik lernen, oder Gedichte der sufistischen Mystik des 9. und 10. Jahrhunderts studieren. Die Astrologie der Araber, die geheimen Zeichen der Alhambra. Die Erzählungen aus der Wüste.
Ich gehe durch die Regale, schaue mich nach Büchern um, lasse die unheimliche Flut an Strichen und Zahlen auf mich wirken. Denke an die Frauen damals in Amerika, die den Speicher für den Mondcomputer geknüpft haben. Ich weiß, alles lässt sich in 0 und 1 umprogrammieren, das Leben ist ein binärer Code, man muss nur alles verknüpfen. Dieser Gedanke gefällt mir.
Wenn man das verstanden hat, ist man frei.
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