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So ein Vogel

Was ist Kunst, wie äußert sie sich? Ich war im Juli noch mal im Haus meiner Verwandten in Antwerpen, habe dort die Gemälde angeschaut. Vor allem die Frauen, wie sie abgebildet sind. Wenn man richtig guckt, bemerkt man etwas Interessantes. Bestimmte Züge sieht man in den Gesichtern fast aller Frauen, sie kehren immer wieder. Ich spreche gerade über das Werk meines Vorfahren, Peter Paul Rubens.

Als er im Alter von 53 Jahre seine zweite Frau heiratete, meinte er zu einem Freund: “Wieso sollte ich die Freiheit gegen eine keifende alte Frau eintauschen? Wenn schon, soll sie jung und nicht aristokratisch sein”. Wenn er Augen malt, sind es ihre. Ich sehe ihr Kinn, ihre Ohren auf den vielen Kunstwerken, ihren Mund, er muss sie sehr geliebt haben. Helène Fourment war 16.

Sie war die schönste Frau Flanderns. Und er malte sie immer wieder. Portraits der Liebe, er nahm sich Zeit für sie, er beobachtete sie. Eine leuchtende Haut, man kann sie fast fühlen, wenn man die Bilder betrachtet, glänzendes Haar, das volle Leben, die Liebe.

Heute möchte ich zu Tafelspitz, dort findet man immer am letzten Sonntag des Monats die “Literaturquickies”. Autoren lesen jeweils eine Viertelstunde aus ihrem Werk. Es gibt Kaffee und Kuchen, ein Häppchen Literatur, eine entspannte Sonntagsatmosphäre. Aber da es noch früh ist, und Sonntag, werde ich erst noch Kaltehofe besuchen, Wasserkunst auf der Elbinsel. Wasserkunst. Ich stelle mir einen Kurs vor, mit Tonerde Brunnen töpfern, mit Wasserfarben frei malen. Aber Stadtplaner Felix, der uns souverän durch die Anlage führt, meint, Wasserkunst heißt, zu wissen, wie man mit Wasser umgeht. Er erklärt uns professionell und sehr klar, wie es nun war mit der Filtration, die nach der großen Cholera-Epidemie in Hamburg notwendig wurde.

Altona hatte schon Filteranlagen damals, Hamburg wollte das Geld nicht investieren. Felix zeigt uns eine Karte. Für jeden Cholerafall ist ein Punkt eingezeichnet. So sieht man klar die Grenze zwischen Altona und Hamburg. Man kann aufs Haus genau sehen, welche Stadtwerke das Wasser liefern. In einem Haus ist es sogar so, dass einige Wohnungen Wasser von Hamburg bekommen, dort sind viele Punkte eingezeichnet, die andere Wohnungen bekommen Wasser von Altona, kein einziger Cholerafall dort. Jetzt konnte keiner mehr wegsehen. Es musste etwas unternommen werden.

Das Elbwasser, das dann ab 1893 gereinigt wurde, versorgte die ganze hamburger Stadt.

Die Schieberhäuschen sollten eigentlich nur vor Regen schützen. Aber man hat nicht einfach so irgendwelche provisorische Zelte hingestellt, sondern kleine, formvollendete Industriebauten. Heutzutage sieht ein Unterstand für die Angestellten der Stadtwerke anders aus.

Der Architekt dieser ästhetischen Schieberhäuschen bei den Filterbecken hat auch die Speicherstadt entworfen, Andreas Meyer.

NordNordWest

Später verwendete man Grundwasser für die Wasserversorgung, das 44 Hektar große Gelände auf der Elbinsel wurde Brachland. Da wurde natürlich die Gier der Spekulanten und Investoren geweckt. Es wurden beeindruckende Pläne erstellt, sehr viel Geld war im Spiel. Und hier zeigt sich die wahre Größe einer Stadt. Man hat dieses Stück Geschichte vor Vernichtung, Zerstückelung, Überbrückung und Bebauung bewahrt, und es den Menschen als Freifläche zugänglich gemacht. Es ist ein Industriedenkmal, Sie können dort mal gucken gehen. Auf dem Gelände befinden sich 22 Filterbecken mit jeweils 2 Schieberhäuschen. Ein Becken mit zwei Schieberhäuschen können Sie noch im Originalzustand besichtigen.

Die übrigen Gebäude und Brachflächen der Anlage werden der Natur überlassen, es haben sich Wasservögel angesiedelt, Fledermäuse, Rehe. Fahren Sie mal hin, es lohnt sich. Sie werden nicht nur über die damalige Ingenieurleistung staunen, sondern auch darüber, dass Sie einfach ein Stück Wildnis mitten in der Innenstadt gefunden haben.

Es ist kalt an diesem Wochenende, neblig und grau. Ab und zu fällt Nieselregen. Es sieht so aus, als ob Instagram eine Pause macht. Was soll man denn jetzt posten? Keine Sonne, keine Blumen, kein Grün, keine blaue Luft. Sogar die Backsteinhäuser leuchten lange nicht so wie im Sommer. Ich sollte noch mal ins Museum gehen, dort macht der Winter richtig Sinn. Kunst aufsaugen, so denke ich.

Als ich nach den tafelspitzigen Vorträgen in der Dämmerung durch die Himmelstraße gehe, höre ich etwas Absurdes. Ich kann es nicht glauben, aber ich höre es ganz klar. Es ist Januar, es ist kalt, ich bin nüchtern, dort singt die Nachtigall.

Dieser Vogel macht sich auch nichts aus Instagram. Er sieht bescheiden aus, unscheinbar, er wiegt nur 20 Gramm, man kann ihn im grauen Licht nicht erkennen. Was soll’s? Seine Stimme ist unfassbar schön. Nur die Männchen singen, und meistens wenn sie vögeln wollen, das ist im Frühling und im Sommer, nachts. Während der Brut auch schon mal tagsüber. Um so überraschender ist dieser Lockruf im Januar, in Winterhude, in der Himmelstraße.

Ich denke an die großen Künstler, wie sie Wochen gebraucht haben, um das geliebte Objekt zu malen. An die Arbeiter der Wasserkunst, die 22 Becken ausgegraben haben, die das Wasser eisfrei halten mussten, und den Sand zwei mal im Jahr aus den Becken schaufeln und waschen, in Sandwaschmaschinen. An Andreas Meyer, der verstanden hat, was Baukunst ist. An Lou vom Tafelspitz, der immer neue Autoren kontaktiert, Kurzgeschichten sammelt und uns Literaturquickies verspricht. Wir haben tolle Museen in Hamburg, die Nachtigall singt in Winterhude, man braucht den Sommer nicht dafür.

“Hallo, wie geht es Ihnen”, so kommt ein gutaussehender junger Mann am nächsten Morgen auf mich zu, als ich unschuldig einen Kaffee trinke bei Mad in der Osterstraße. Ich sehe ihn an, überlege, ob ich ihn schon mal gesehen habe, denke, dass er mich verwechselt. Was nun? Soll ich mal so tun, als ob ich ihn kenne? Mit ihm um die Häuser ziehen? Ich bin doppelt so alt wie er, ich kann mich nicht erinnern, dass ich auf einer Party… Und die Freunde meiner Kinder wohnen nicht in Hamburg, nur die Marie. “Sie sind doch die Stadtschreiberin, wir haben zusammen einen Podcast aufgenommen. Im Sommer”.

Stimmt, da war was. Diese Werbeagentur in der Schanze, die netten Jungs. Eine Terrasse unter einem Baum, einige schräge Vögel. Geschichten vorlesen.

Jetzt weiß ich es wieder, es war Sommer.

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