Da ich für eine Firma arbeite, die ökologische Holzhäuser herstellt, möchte ich etwas über den deutschen Wald erfahren und rufe einen Holzarbeiter im Sauerland an. “Der Borkenkäfer”, so spricht der Forstmann, “randaliert im Wald, noch 2 Jahre und hier steht keine einzige Fichte mehr”. Von den 6.000 Borkenkäferarten gibt es in Deutschland so um die 110. Bei den polygamen Sorten sind es die Männchen, die eine Rammelkammer von außen in die Borke fressen. Hier werden sie nacheinander von mehreren Weibchen aufgesucht, die sie begatten. Aber wie gesagt, es gibt auch andere.
Zum Beispiel gibt es Arten, bei denen die Geschlechtsbestimmung mittels Haplodiploidie stattfindet. Haplodiploid heißt, es gibt nur 1 Chromosomensatz. Es läuft darauf hinaus, dass aus unbefruchteten Eiern immer Männchen, aus befruchteten immer Weibchen entstehen. Hier findet man zwergwüchsige, völlig augenlose Männchen, die niemals die Brutgalerien ihres Wirtsbaums verlassen können. Sie haben keine andere Wahl, als sich mit Schwestern oder mit Muttertieren der vorangehenden Generation zu paaren. Also bitte haben Sie ein wenig Rücksicht mit dem armen Borkenkäfer.
Fichten gehören doch eigentlich im hohen Norden, oder? Kann man sie im Sauerland nicht einfach vergessen, und sich stattdessen für robustere Bäume entscheiden? Es bleibt eine Weile still am anderen Ende des Telefons, ich höre, wie der Forstmann scharf den Atem einzieht. “Sagen wir mal so, für die Holzindustrie ist es schon schlimm, das Holz ist die Lebensgrundlage hier. Fichten bedeuten schnelles Geld”, kommt die knappe Antwort. Ich schweige, er wird weicher: “Versuchen Sie mal einen anderen Baum innerhalb einer Generation hackreif zu bekommen. Aber es stimmt, bei uns haben Fichten eigentlich nichts zu suchen.”
Am Donnerstag schaue ich mir Enigma an, in Aachen, im Grenzlandtheater. Das Stück handelt von einem Schriftsteller und einem Reporter, miteinander in der Hölle der Gefühle unterwegs.
Ein erfolgreicher Schriftsteller bietet eine phantastische Projektionsfläche für die sich unverstanden wissenden Seelen, die einen intellektuellen Anspruch haben. Sie wenden sich beleidigt ab, wenn das alltägliche Gegenüber diesem Anspruch nicht zurecht wird. Viele unbeantwortete Gefühle haben sich aufgestaut, eine große und undefinierte Sehnsucht sucht ein Ziel. Diese schwere Masse, die sich in Bewegung gesetzt hat, ist kaum noch aufzuhalten, sie stürmt zielstrebig auf den Schriftsteller zu, denn er weiß, worum es geht. Er hat Einblick, Durchblick. Er ist intellektuell und sexuell unwiderstehlich.
Mit Versen der großen Dichter im Hinterkopf und passenden Büchern unterm Arm schreiten die Bewunderer durch die deutsche Kulturlandschaft, die leidenschaftlichen Passagen aus den Texten eines ungarischen Dichters der Kriegsjahren auf den Lippen. Die Brille ist bunt, das Halstuch auch, die Schuhe von der teuren Gesundheitsmarke, gerade letztes Wochenende in Hamburg auf dem Gänsemarkt gekauft, sie sind schon aus der neuen Frühlingskollektion.
Sind Sandalen nicht eher für den Sommer gedacht? Nein, in den Modezeitschriften steht es so, offene Schuhe und bunte Socken, man ist so jung, wie man sich fühlt. Das kurze, asymmetrisch geschnittene Haar? Frech gestyled. Rote Lippen, schweres Parfum.
Der Schriftsteller wird angehimmelt. Wenn er seine Ruhe will, darf er nicht zu freundlich sein. Er darf aber auch nicht zu abweisend sein, das spornt die galoppierende lyrische Invasion nur an. Will er seine Ruhe? Oder will er einfach wahrgenommen werden?
Man kann ihn besuchen, ihm das Herz hechelnd und schwanzwedelnd vor die Tür legen, hier, nehmen Sie, Sie verstehen mich so gut, Ihr letzter Roman hat mir direkt aus der Seele gesprochen. Der Schriftsteller vom Theaterstück wohnt ganz passend in einer einfachen Holzhütte am Strand, er jagt mit einem Gewehr über die Insel, macht Feuer nachts. Er ist männlich und gleichzeitig intelligent, feinsinnig. Vielleicht sogar gefährlich, wild, einnehmend, bestimmend. Sexuell unersättlich.
Er lässt keine Möglichkeit eines schnellen Abenteuers aus, behauptet jedoch, nur eine einzige Frau zu lieben. Von dieser hatte er sich nach einigen Monaten heftiger Beziehung wieder getrennt, um die Leidenschaft zu erhalten, daraufhin ist er auf die Insel gezogen. Heiße Worte und unaussprechliche Gelüste in Briefform, wüste Anspielungen werden hin und her geschickt.
Das Theaterstück nimmt seinen Lauf, natürlich ist nichts so, wie es aussieht, die Schauspieler brechen abwechseln in Gelächter und in Tränen aus, fallen sich in die Arme, töten sich fast, jagen sich, beleidigen sich, trennen sich wieder.
Das Publikum springt von den Sitzen auf, applaudiert wild begeistert. Erschöpft und schwitzend stehen sie dort, die zwei Schauspieler, ich sitze in der ersten Reihe, das Grenzlandtheater ist so klein, dass man die sich verbeugenden Männer ohne weiteres küssen könnte. Aber das macht man natürlich nicht. https://grenzlandtheater.de/
Ich denke an den Forstmann aus dem Sauerland. Ob er auch ins Theater geht? Bietet er seine Fichten und Tannen den Bühnenmeistern an? Jetzt gibt es unfassbar viel Holzvorrat, zwar mit sich paarenden Borkenkäfern drin, aber immerhin.
Die Holzbaufirma, für die ich arbeite, hat gerade 15.500 Bäume gepflanzt, teilweise auf früheren Ski-Hängen und teilweise in einem eigenen Wald. Langsamwachsende, einheimische Bäume. Ich lade den Forstmann aus dem Sauerland ein, bei Baufritz mal vorbeizugucken.
Der Borkenkäfer muss nicht gucken, er muss nicht raus, die Weibchen kommen zu ihm. Er hat überhaupt keinen intellektuellen Anspruch. Dafür ist er bestimmend und sexuell unersättlich.
Inzwischen wütet Sabine übers Land, noch mehr Bäume werden ausgerissen. Aber es regnet auch ordentlich. Es hagelt und schneit. Es sind nicht die optimalen Bedingungen für den Borkenkäfer, wir brauchen ihn nicht zusätzlich zu vergiften. Ein Kammerjäger hält sich hier besser raus. Wir sollten versuchen, ihn zu verstehen, so absurd sind seine Wünsche ja nicht. Er möchte sich einfach nur paaren. Trocken und warm, gemütlich in seiner Rammelkammer.
Comentários