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Rheinflüstern

Der Rhein liegt wie ein glatter Spiegel in seinem Flussbett. Er reflektiert die Häuser, die am Ufer stehen, die alte weiße Kirche, die Bäume. Ein gestochen scharfes Spiegelbild der Stadt im Wasser.

Die Sonne steht tief. Ein feiner Sichelmond hängt neben Venus über der Autobahnbrücke. Sonst ist der Abendhimmel leer, es sind keine Flugzeuge unterwegs. Auch das Ufer ist verlassen, kein Mensch ist zu sehen. Es stehen nur einige Bäume und Büsche hier, sie zeichnen sich scharf gegen den Himmel ab. Das steinige Ufer, auf dem ich mich befinde, ist normalerweise unter Wasser. Gerade ist es sehr trocken, es hat lange nicht geregnet und der Rhein zieht einen schmalen Streifen durch die Landschaft. Es wird langsam dunkel.

Eine Gestalt läuft auf dem unebenen Gelände hin und her, sucht etwas zwischen den Steinen. Er kommt zu mir und sagt nicht erschrecken, ich suche nur eine Tasche. Ich erschrecke mich nicht, frage, ob er etwas trinken möchte. Er meint, nein danke, mit Gras wäre ich zufrieden, und läuft weiter. Ich sehe ihm nach, wie er immer vager wird. Ist er echt?

Es ist jetzt ganz dunkel, die kleine weiße Kirche am gegenüber liegenden Ufer ist angestrahlt, die Lampen in den Häusern sind an. Ich sehe, wie jemand am Wasser steht und Fire Poi übt. Die Person selber kann ich nicht sehen, aber schon das wirbelnde Feuer, dort am anderen Ufer. Ich überlege kurz, auch ein Feuer zu machen, so dass wir korrespondieren können, es liegt ja genug Gestrüpp um mich herum und Streichhölzer habe ich in der Tasche. Außerdem ist in dieser Zeit der Kontaktsperre jede Art der Kommunikation willkommen. Aber ich mache es nicht, will einfach nur dort sitzen, auf einem Stein, am Ufer. In die Nacht sehen und das Leuchten gegenüber beobachten. Ein bisschen rheinflüstern.

Sind Sie Französin? So fragt mich ein Kunde am nächsten Tag am Telefon. Ich überlege kurz, ihm die Genugtuung zu geben, zu sagen, ich käme aus Paris.

Ich hätte dort Kunst studiert. Gerade würde ich auf meiner kleinen Dachterrasse sitzen und die Geräusche der Straße hören. Alte Renaults, Mopeds, Stimmen, aufgeregt, lachend, flirtend.

Der schlaksige junge Mann mit Schiebermütze, der unter mir wohnt, würde vorm offenen Fenster Baritonsaxophon üben. Auf der Dachterrasse gegenüber würde ich eine Nachbarin sehen, die zwischen den vielen Topfpflanzen ihre zarte Lingerie in Frühlingsfarben an die Wäscheleine hängt. Sie hätte die glänzenden, kastanienbraunen Haare in einem Zopf lose zusammengeflochten und würde ein Männerhemd tragen. Sie wäre barfuß.

Ich würde gerade Frühstückspause machen, die schmale Treppe heruntergehen, in das strahlende Frühlingswetter auf die Straße treten, mit einem herzlichen Bonjour Mademoiselle angesprochen werden. Ça va? Oui, ça va!

Der Bäcker hätte frische Baguettes ausliegen, der Duft wurde vom Frühlingswind durch die Straße getragen. Ich würde einen Kaffee und ein Croissant kaufen und mich auf die Terrasse am Brunnen setzen, unter den Bäumen, die die letzten weißen Blüten im Wind verabschieden. Der Wind, der mit den Röcken der Damen spielt, die Gazettes aufwirbeln lässt, die feinen Blütendüfte durch die Luft trägt. Keine Rose, kein Jasmin. Flieder.

Ich würde das Gespräch nun kurz unterbrechen, denn es setze sich gerade jemand zu mir. Ob ich denn gleich noch mal zurückrufen könne?

Ich widerstehe der Versuchung, eine solche Geschichte zu erzählen, denn ich befinde mich nicht in Paris, ich bin zuhause. Ich habe einen Akzent.

Ich komme aus Antwerpen.

Also nicht französisch. Dennoch sehr charmant.

Was mir auffällt, wenn ich im home office für Baufritz mit den Kunden rede, ist, dass viele Menschen höflicher sind. Sie sind bedachtsam, freundlich, haben mehr Zeit, reden in vollständigen Sätzen. Sie lassen auch mich aussprechen, sind netter als noch vor Corona. Oft sind die Kinder zuhause, die Atmosphäre ist dennoch entspannt, lebendig und offen. Heile Welt? Ich höre auch, wie Millionenbeträge verloren gegangen sind, Träume geplatzt, Beziehungen zerbrochen. Wie Verzweiflung wächst.

Keiner weiß, wie es weiter geht. Aber die Intelligenz bekommt wenigstens jetzt eine Chance, sich zu entfalten. Sie wird nicht mehr ständig unterdrückt, weil immer etwas anderes vorgeht. Sie wird nicht mehr von der Zeit überrollt, sondern darf sich endlich zeigen.

Ich denke an den Rhein, an die Stadt am Ufer, die mehr als doppelt so groß ist, wenn man das Spiegelbild dazu nimmt. Auch wenn es nicht materialistisch ist, sondern nur ein Bild, eine Erscheinung, etwas Ungreifbares, ist es da. Es gibt Schönheit und Klarheit, vermittelt Wissen und Möglichkeiten. Es kann nicht angegriffen werden, nicht vernichtet, es baut sich immer wieder auf, so bald das Wasser klar ist und die Sonne scheint.

Ich lege eine Schallplatte von Arvo Pärt auf, höre Spiegel im Spiegel, und denke an das menschliche Unvermögen, zu wissen, was echt ist, und was nur eine Vorstellung. Ich weiß, gleich kommt Sokrates mit seinem Höhlengleichnis um die Ecke.

Er hat es erarbeitet, sein Schüler Plato hat es aufgeschrieben. Sokrates war ein scharfsinniger Redner, gebrauchte Dialoge, um den Problemen auf den Grund zu gehen und den Schülern zum Erforschen und Nachdenken anzuregen. Der bekannteste Satz von ihm ist: Ich weiß, dass ich nichts weiß.

Er erteilte keinen klassischen Unterricht, trat während seinen öffentlichen Auftritten auch selber als Schüler auf. Dann wollte er belehrt werden, stellte geschickte Fragen. Damit machte er sich nicht überall gleich beliebt. Seine ironische und überlegene Art führte das Unwissen der anderen vor, und so beleidigte er manche Person, vor allem, wenn diese Person mächtig war und sich vor den jungen Schülern ins Lächerliche gezogen fühlte.

Sokrates setzte auf Dialoge, um Erkenntnis zu gewinnen, auf die Bestimmung des Guten, um darauf die Richtung des Handelns auszurichten, und auf Selbsterkenntnis, um ein gelungenes Dasein zu erreichen. Diese drei Grundsätze sind bis heute gültig. Man warf ihm jedoch vor, mit seinen Lehren die Jugend zu verderben. Er wurde zum Tode verurteilt als er 70 Jahre alt war und bekam den Schierlingsbecher.

Es war das Jahr 399 v.Chr.

Der gefleckte Schierling ist hochgiftig. Das Gift verursacht eine Lähmung des Rückenmarks, die bei den Füßen anfängt und mit Atemstillstand aufhört. Der Körper krampft und zuckt, bis auch die Lungen gelähmt werden und der Verurteilte bei vollem Bewusstsein erstickt. Lieber weniger Schmerz? Fügen Sie Mohnextrakt dem Becher hinzu, dann tritt eine Betäubung ein. Aber ist das besser? Ist der Schmerz dann weg?

Was wissen wir schon?

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