Ich sitze im Zug von Hamburg nach Aachen.
In Hamburg sind zwei Rechtsanwälte eingestiegen, die sich nicht kannten aber beide nach Bremen unterwegs sind. Der eine ist gefestigt im Amt, leicht ironisch und voll gerüstet, er hat die verrücktesten Sachen schon erlebt, der andere ist gerade neu und etwas verunsichert. Das kommt aber hauptsächlich, weil er nur das eine Hemd gefunden hatte, das Manschettenknöpfe braucht, die anderen waren nicht gebügelt. Und er hatte nur die exotischen Singvögel als Manschettenknopf.
So sitzt der Rechtsanwalt mir gegenüber, jung, mit schönen leuchtenden Augen und Vögeln am Handgelenk.
Beide kippen sich Kaffee rein, den gibt es hier en masse, es wurde schon welchen im Bahnhof gekauft und auch im Zug trabt ein Kaffeelieferant durch die Gänge auf und ab. Ich würde gerne mal im Bremer Amtsgericht schnuppern, eine Mélange aus Bahnhofskaffee in Pappbechern.
Ob sie denn eine Robe anhätten, will ich wissen, oder vielleicht auch eine Perücke. Eine Perücke hatte ich nicht ernst gemeint, aber die Robe, ja, die wird angezogen. Obwohl man damit in Bremen eher gedisst wird. “Das sind da alle solche Alt-68-er”, höre ich interessiert, “die haben einen Wettkampf laufen, wer denn am Schlechtesten gekleidet ins Gericht kommt, mit ausgebeulten Cordhosen und so” geht die Insider-Info weiter. Aha. Das merke ich mir.
Die Anzeige mit den reservierten Sitzplätzen funktioniert nicht richtig, der Fahrer Markus entschuldigt sich dafür und versichert uns, er sei jederzeit anzusprechen, wenn man dann eine Frage hat oder etwas auf dem Herzen. Das gibt mir schon ein mulmiges Gefühl, stellen Sie sich vor, man spaziert zum Zugfahrer und unterhält sich mit ihm, weil man eine Frage hat. Was passiert dann mit dem Zug?
Jedenfalls erreichen wir ohne Zugunglück Bremen. Die netten Rechtsanwälte verabschieden sich und überlegen sich, zusammen mit der S-Bahn zum Gericht zu fahren. Ich stelle mir vor, ich wäre neu am Gericht. Ich würde mich sehr freuen, wenn eine erfahrene Person einfach sagen würde “wir können zusammen dahin, ich zeige Ihnen das, machen Sie sich keine Gedanken”.
Ein Rechtsanwalt braucht sich vor allem keine Gedanken zu machen. Menschlichkeit ist wichtiger.
Die Leute, die in Bremen einsteigen, sind entspannt, das mit den reservierten Sitzplätzen wird einfach so geregelt, man kann ja höflich fragen, dann bekommt man ohne Weiteres den Platz, den man gebucht hat.
Nicht so in Osnabrück.
Eine Gruppe von 6 fest entschlossenen Damen stapft in den Zug, mit Kurzhaarschnitt, Wanderstöcken und Rucksäcken. Sie regen sich auf, dass ihre reservierten Plätzen von irgendwelchen fremden Herrschaften belegt sind, und ob diese sofort den Platz räumen würden. Wahrscheinlich haben sie gerade bei der VHS einen Kurs belegt “sich im Alltag behaupten: wie sich das Innere Kind meldet”. Ich versuche, höflich zu erklären, dass die Anzeige nicht funktionierte, aber sie keifen, “sie funktioniert sehr wohl und bitte räumen Sie sofort die Plätze, wir brauchen sechs”.
Pepe, den ich als Vertreter der Stadtschreiberin nach Bergedorf aufs Stadtfest geschickt habe, würde an dieser Stelle sofort dazwischenkommen. Er ist aus Ulm und spricht Schwäbisch, und er hätte gesagt, haidenai, er hätte vollstens Verständnis dafür, dass sie sechs brauchen, aber wir wären hier nun mal im Zug und alle auf einmal ginge eh nicht. Er wäre ja auch nur ein Mann.
Ich denke mir, ein normales “Guten Morgen” hätte tatsächlich mehr gebracht. Genauso wie die gut erzogenen Anwälte im Anzug vorhin, die haben auch nicht nach Sex gefragt. Im Alter wird man frech? Nun ja, ich sag da nichts.
Die Lage entspannt sich, wenn sie sich alle auf ihren reservierten Plätzen niedergelassen haben, wenn die in Alufolie und Plastiktüten verpackte Sektflasche ihren Plastikverschluss lautlos hat gehen lassen, die Einmal-Sektgläser zusammengeschraubt und vollgeschüttet werden und die Tupperdosen mit Knabberzeug auf den Tisch kommen.
Das Gespräch geht über gruselige Mäuse im Keller, oder noch schlimmer, Frösche, denn die hüpfen auch noch. Es geht über die Arbeit und über die unverschämte Reinigungsfrau, die einfach im Büro staubsaugt und zwar zwischen den Beinen.
Und a propos, die Männer.
Sie trinken beleidigt den Sekt, sie werden lauter. Ich lasse meine Ohren weiterwandern, den Rest will ich nicht hören.
Es ist ja eine normale Zugfahrt, ich muss kurz nach Aachen. Mein Jüngster ist noch in der Schule, die diese Woche anfängt. Daher ist Pepe aus Ulm an meiner Stelle zum Bergedorfer Stadtfest gefahren und lauscht dort, was abgeht. Er wird Notizen machen, so dass ich berichten kann. Gut, wenn man so eine Unterstützung bekommt. Hoffentlich benimmt er sich, er ist ja in offiziellem Auftrag unterwegs.
Wenn die Schule anfängt, will eine Mutter das Kind gut versorgt wissen, mit genügend Schreibmaterial und ausreichend Heften, die Nummer 25, oder 26? Es braucht ein Notenbuch. Die Kunstmappe. Ach, das Geodreieck ist in 3 Teilen zerbrochen. Alle 5 Radiergummis sind verschwunden. Die Brote vom letzten Jahr sind noch in der Schultasche, grün. Und überhaupt, der Stundenplan, was? Diese jungen Lehrer? Die kenne ich noch als Pfandfinder!
Zum Glück bin ich bald wieder in Hamburg, wo die Schule schon längst angefangen hat und die Aufregung sich wieder gelegt. Wo die ersten Schuhe des Schuljahres schon wieder zu klein sind und die ersten Vertretungspläne zum Einsatz kommen.
Es ist schön, dass die Kinder in die Schule gehen dürfen, und dann einen Beruf auswählen, der ihnen liegt und Freude macht.
Ich frage mich, ob die Mutter in Hamburg weiß, wie toll ihr Kind mit gebügeltem Hemd und Vögeln auf den Manschetten im Zug saß, etwas nervös war und zu einer Gerichtsverhandlung nach Bremen fuhr.
Und ob sie denkt “er war doch gerade noch bei den Pfadis”…
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