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Kopfkino

Die Landschaft in Schottland ist hügelig, der Frühling entfaltet sich gerade, man kann unglaublich weit gucken. Eine hohe und kristallklare Luft streckt sich von Horizont zu Horizont aus. Ich trabe durch die Gegend, sehe in die Ferne. Es weht ein trockener Nordostwind. Ich sehe das Ortseingangsschild Aachen.

Ich befinde mich nicht auf einer nordschottischen Insel, verlassen im endlosen Ozean, auch wenn es sich so anfühlt. Es ist Aachen hier. Aber unter einem endlosen blauen Himmel, wie man ihn nur selten sieht. Die weißen Streifen fehlen, das Gitter, das uns sonst gefangen hält.

Auch der Infraschall ist verschwunden. Das Geräusch, das man unbewusst ständig wahrnimmt. Jetzt nicht. Es gibt keine Flugzeuge. Es gibt kaum Autos. Plötzlich bekommt die Umgebung mehr Raum, mehr Tiefe.

Aachen liegt in einem Talkessel, wo sich gerne mal Wolken und Staub verfangen, wo viel Verkehr ist und es viel regnet. Gute Luft gibt es einige Kilometer außerhalb im Stadtwald. Aber dort braucht man sich jetzt nicht mehr zu treffen, man braucht sich gar nicht mehr zu treffen. Man kann fröhlich alleine über den Markt joggen, um den prachtvollen Brunnen mit der Statur von Karl dem Großen herum, die Luft ist rein.

Im Wald spielen Kinder am Bach, Personen stapfen zu zweit durch die Feldwege, jeweils von 2 Meter sauberer Luft getrennt. Am Parkrand spielt Familie Liebesstund eine Partie Boule unter den frisch geschnittenen Linden, sie haben schon hellgrüne Knospen. Das Wasser im Teich ist ruhig, es spiegelt die stille Luft, die Jungs versuchen zusammenzuzählen, wer gewinnt.

Hinter der Bruchsteinmauer ist ein Garten von der Gemeinde. Die Familie, die dieses Grundstück pachtet, baut dort gerade eine Baumhütte. Auf der Mauer wachsen die ersten kleinen Blumen, die Wildpflaume blüht pink.

Die Leute haben Angst. Diese Situation kennt keiner. Es fehlt eine langsame, sonore Musik, die Vorahnung, das etwas passieren wird. Wo geht die Geschichte hin, wie schlimm wird es noch? Was ist in einigen Wochen?

Alle wissen, das dies hier kein Picknick ist. Kein Spaziergang im Park. Die Menschen im Supermarkt tragen Schutzhandschuhe und Atemmaske. Langsam fährt ein Streifenwagen der Polizei vorbei. Im Krankenhaus gibt es keinen Unterschied zwischen Tag und Nacht, jetzt erst recht nicht. Es geht um Leben und Tod. Das eine Flugzeug am Himmel heute morgen bringt Atemmasken aus China.

Der Optiker meint, ein Mensch sollte mindestens anderthalb Stunden täglich im Tageslicht sein. Draußen, nicht hinter dreifach verglasten Fenstern. Sonst würde eine Kurzsichtigkeit oder Weitsichtigkeit sich rasant verschlechtern. Das Trampelpfad einer Augenerkrankung würde so zu einer vierspurigen Autobahn ausgebaut werden, so der eloquente Brillenberater. Vor allem, wenn man viel an Bildschirmen arbeitet.

Das Brillengeschäft ist jetzt geschlossen. Damit muss man leben. Keine neue Brille hier, aber die alte tut es noch. Die Haare wachsen unkontrolliert, die Friseure und Barbiere haben zu. Die Bärte sprießen. Die Fußpflege hat zu. Die Nagelstudios. Die Restaurants und Cafés sowieso. Lieferservice, das geht, Heimkino. Kopfkino, noch besser.

Ich habe meinen beiden Söhnen einen Irokesenschnitt verpasst, sie meinen, ist egal, sie müssen ja nicht zur Schule. Keiner geht zur Schule. So erreicht die Menschheit eine neue Evolutionsstufe. Online lernen. Die Lehrer sind nicht angezogen. Sie haben plötzlich ihre eigenen Kinder um sich, die auch nicht einfacher sind. Es gibt keine korrekten Frisuren mehr, keine parfümierte Bartpflege, keinen Undercut, das schafft man selber nicht, ich hab’s ja versucht. Sind wir also doch in den Highlands?

Keine neue Kleidung, keine Frühlingskollektion, egal, denn wir haben alle schlechte Augen wegen Netflix, Playstation und Home-Office.

Keine Übergangsjacken, es hat also auch etwas Gutes. Kein Songfestival. Keine Gel-Fingernägel, so sieht man wieder natürliche Hände, mit Nägeln, zartrosa wie Wildpflaume.

Alle zuhause, barfuß und mit wilden Haaren, kaum etwas zum Anziehen, keine Brille auf, Kopfkino.

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