Wenn man eine bestimmte Runde durch den Samstagvormittag geht, trifft man sich. Auf dem Biomarkt, im Hof, im Domkeller. Beim Hühnerdieb. Ich schiebe mein Fahrrad durch die Aachener Fußgängerzone, am schlagsahnigen Dom vorbei, sehe die Stadtbewohner, wie sie kleine rote Beeten kaufen, dünnes Porreegemüse und Kartoffeln voller Lehm, sie drängen sich vor dem improvisierten Stand der rotbäckigen Verkäuferin. Daneben ist der Käsestand, dort sind die Blumen vom Holländer, dann sehe ich Piet.
Ob wir zusammen einen Kaffee…? Ja klar, hier im wilden Wind, der in der Krämergasse neben dem Dom wohnt, kann man sich nicht unterhalten, der Wind will das erste Wort, das letzte Wort, der Wind will alles.
Was das soll mit der Kunst? Und mit der Seele, wo kommt sie her? Was drückt Musik aus, kommt sie aus der Seele? Ich will die Geschichte Europas erzählen, so Piet, wie ein Storch alles beobachtet während er über den Ländern schwebt. Er segelt, der Storch, er kennt keine Grenzen, und was er sieht, ist sehr bedenklich.
Ich trinke den Kaffee und sehe ihn an. Er weiß einiges, zu viel, er leidet. Er malt phantastische Bilder und seine Musik kommt woanders her.
Ob er mir ein Bild für mein Buch geben kann? Er überlegt, sieht in die Ferne. Er sollte mal ein paar Konzerte geben, so Manfred später. Das stimmt. Piet ist ein außergewöhnlicher Künstler, er muss sich mehr zeigen, es ist schwierig, ihn zu finden. Wir könnten für eine Bühne sorgen, einige Auftritte. Die Kunst soll geteilt werden, Kunst braucht ein Publikum, einen Dialog, sie will aufgenommen werden. Ich sitze bei Manfred in der Galerie und sehe, wie die Leute auf der Straße vorm Schaufenster stehenbleiben. Sie verstehen nicht genau, was hier angeboten wird, aber werden von dem Laden dennoch angezogen. Vielleicht sind es die Holzbänke, die auf der Straße stehen. Die Stachelpflanze vor der Tür. Bald gibt es hier Konzerte von Piet, live. www.piet-hodiamont.de
Am nächsten Tag will ich nochmal nach Hamburg fahren, um mich mit einigen Leuten zu treffen. Der ICE hat eine halbe Stunde Verspätung, ich stehe im Buchladen herum und informiere mich über das Presseangebot. Ich sehe Reisen, Strand, pinke Flipflops, Palmen.
Das ist der Trend jetzt, man sollte an den Strand. Aber erst die Figur in den Griff bekommen, schließlich ist es Januar, die Feiertage liegen uns noch auf den Hüften. Was gibt es sonst noch in der Presseabteilung?
Ich wundere mich, wie viele Psychologie-Zeitschriften sich hier stapeln, und vor allem, wie salonfähig sie sind, die Psychosen, die Phobien, die Depressionen, Tips und Tricks der Psychiater. Es ist alles voll normal. Ich denke an Piet, an einen Storch, wie er über Europa fliegt und nicht viel Gutes zu berichten hat.
Jetzt bin ich mal dran so diagnostizieren die Zeitschriften. Hier geht es um mich.
Zum Glück lesen nicht alle Menschen die gleichen Zeitschriften, dann könnten wir unsere Gesellschaft vergessen, die Reise wäre bloß ein Ego-Trip.
Wo liegen meine ungekannten Talente, wo mein unausgeschöpftes Potential? Wie kann ich mich entfalten?
Es wird noch gruseliger. Wer bin ich?
Und dann die Erkenntnis, Was ist mit meinem passiv-aggressiven Verhalten?
Man ist voller guten Vorsätze für das Neue Jahr, liest die Titeln der Zeitschriften und staunt. Man liest weiter, und genießt das behagliche Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen. Natürlich nimmt man sich vor, nicht passiv aggressiv in den Zug steigen, sondern sondern aktiv friedfertig, letztendlich hat das Jahr gerade erst angefangen, man hat gerade reinen Tisch gemacht. Man kann schaurige Geschichten über die Anderen lesen, über die Passiven, die Aggressiven, so als würde man Tatort gucken an diesem Sonntagabend. Man hat sogar die Möglichkeit, sein komplettes Potenzial auszuschöpfen und auf 480 Kilometern zu entfalten. Beim Verlassen des Zuges ist man geläutert, emotional angekommen.
Ich kaufe 11 Freunde.
Im ICE rase ich an 240 Stundenkilometern nach Norden. Es ist dunkel, es fühlt sich wie tiefste Nacht an, auch wenn es erst halb sieben ist. Ich habe Lust auf Frühstück.
Paradiesisch, entzückend, lecker, erstklassig, hübsch, charmant, hervorragend, gemütlich, herzlich. Wenn ich lese, wie Hamburg seine Frühstücksszene in Eimsbüttel beschreibt, fühle ich, wie die Himmelspforte gerade weit aufgeht für mich, die Reisende. Ich kann hineingehen und der sanfte Wind unzähliger Möglichkeiten weht mir um die Nase. Man frühstückt hier auf Wiesen im wallenden Blumenkleid, mit selbstgebackenem Brot im Flechtkorb. Hüggelig heißt es hier. Man kocht selber, alles ist hausgemacht, gutaussehende Pärchen laufen Hand in Hand durch die Straßen, die Kinder auf hölzernen Laufrädern haben selbstgestrickte Pullis an.
Da muss ich hin! Ich muss den Haken finden. Wo sind die Probleme von Eimsbüttel? Darf man hier schlechtgelaunt durch den Morgen gehen? Darf man verwegen sein? Versteht man hier die Geschichte vom Storch, der in hohen Lüften über den Ländern schwebt?
Ich treffe mich mit Werner vom Wortinstitut: www.wortinstitut.de. Er ist neugierig, er hat Lust auf unbekannte Texte, auf die nächste neue Fragestellung und Aufgabe. Er verfasst gerade eine zeremonielle Festschrift und läuft Marathons am Polarkreis, im Winter.
Komm zu Karstadt in Eimsbüttel, so hat er mir geschrieben. Karstadt? Gibt es das noch? Ich gucke auf der Website dieses Geschäfts, sehe Reisen, Strand, pinke Flipflops, eine Palme. Dunkel und bedrohlich liegt das Gebäude an der Kreuzung, wie aus einem Star Wars-Film. Der Aufstieg Skywalkers vielleicht. Das außerirdische Wesen befindet sich in Lauerstellung, die Fenster formen einen schmalen Sehschlitz, die Passanten werden genau beobachtet. Die Uhr tickt. Es ist schwer und behäbig, zu schwer, um plötzlich aufzuspringen, das Laserschwert zu zücken, zum Angriff überzugehen.
Wenn ich abends durch die Isestraße gehe und in den Häusern die Lichter an sind, denke ich, wer will denn jetzt mit pinken Flipflops an den Strand fahren? Hat Eppendorf nicht auch diesen schönen Markt, wo man kleine rote Beeten und lehmige Kartoffeln bekommt? Porreegemüse? Und die besten Franzbrötchen? Ich kann mir vorstellen, dass man sich hier trifft, auf dem Markt, und zusammen einen Kaffee trinken geht. Über die Kunst redet, was sie ist, wie sie die Seele berührt.
Ich sehe phantastische Häuser, die den Krieg überlegt haben, jedes einzelne ein Prachtstück. Eine großzügige Haustür, den Eingansbereich, die Treppen. Die hohe Decken, die Architekten hatten Herzblut. Und überall stehen stattliche hohe Bäume, fließt Wasser, manifestiert sich Weite. Die U-Bahn fährt hier überirdisch? Ja, das tut sie, und nicht nur das, sie schwebt sogar auf einer hohen eleganten Schiene durch die Luft. Vom Eppendorfer Baum schlingert sie sich zur Hoheluftbrücke.
Dass sie sich dennoch U-Bahn nennt? Pures Understatement.
Piet Hodiamont, Invisible
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