Ihr gehört doch zur Generation “draußen”, so eine Auszubildende, als ich mit einigen Kollegen überlegte, ob wir mal an die frische Luft gehen sollten. Wir lachten über diese Bemerkung. Generation draußen? Was war damals anders als jetzt? Mehr Leben auf der Straße? Schönere Motorräder, ja. Originellere Autos, nicht so groß und einheitlich. Wir haben uns mit den Freunden in der Stadt verabredet, keiner kam auf die Idee, im Wohnzimmer zu sitzen. Wir trafen uns im Wald, oder auf dem Schulweg, zu Fuß, mit dem Fahrrad. Die Eltern wollten uns eh nicht im Haus haben, es gab dort keine Funktion. Vor allem war es unglaublich langweilig drinnen. Wenn Besuch da war, der stundenlang mit Kaffee und Kuchen herumsaß, konnte man das als Kind kaum aushalten.
Ich sah meine Kollegen an, wir entschieden, ja, sie hat Recht. Das Abenteuer fand eher draußen statt. Wir waren einfach oft auf der Straße. Wir saßen auf Mäuerchen herum. Wenn ich einen Freund besuchen wollte, offiziell oder heimlich, musste ich eine halbe Stunde radfahren. Ausgehen und den Bus verpassen? Das bedeutete stundenlang durch die Nacht laufen und hoffen, die Eltern würden nicht aufbleiben und warten. Ich ging alleine zur Schule. Der Weg war weit und unbekannt.
Und jetzt, 30 Jahre später? Ich sitze draußen, in der Mittagspause. Wir trinken Kaffee auf der Terrasse am Markt, ich treffe mich mit meinen Freunden zum Laufen im Wald, gehe zu Fuß durch die Straßen, fahre Fahrrad gegen den Wind.
Dabei ist es endlich schön im Haus. Viel Licht und Sonne. Wir haben freie Räume geschaffen, mit vielen Fenstern. Keine Schrankwände, sondern freistehende Möbel mit schlanken Beinen. Ich habe sie wieder gefunden, erst auf dem Flohmarkt, jetzt gibt es sie in den Designerläden. Aber wo halten wir uns am meisten auf? Draußen natürlich. Denn drinnen sind die Kinder, sie liegen im Bett, sie hängen ab. Diskutieren stundenlang, lautlos und mit nur einer Bewegung, sie wischen über den Bildschirm.
Vielleicht sollte ich sie fragen, ob sie Lust auf eine Radtour haben.
Wir nehmen sie mit zu Fußballspielen, in die größten Stadien der Welt, sie sind gelangweilt und mit dem Mobiltelefon beschäftigt. Wir wollen draußen essen, decken den Tisch auf der Terrasse. Die Jugend sieht uns nachdenklich an, sie hat gerade keinen Hunger. Wir wollen joggen, inlinern, kitesurfen, snowboarden, die Jugend zuckt kurz mit der Wimper, wenn überhaupt, bevor sie wieder in ihre Welt abtaucht. Während unsere Kinder mühelos in T-Shirt und Jogginghose um die ganze Welt reisen, alle Kontinente mit einer Wischbewegung besuchen, versuchen wir die Quantenphysik zu begreifen.
Haben die Eltern der 70-er Jahren ihren Nachwuchs mit Radtouren genervt? Ich bezweifele, dass unsere Eltern überhaupt ein Fahrrad hatten damals. Sie hatten immer etwas Wichtigeres zu tun. Konnten sie überhaupt Rollschuh fahren? Skifahren? Die haben uns rausgeschickt, ohne zu wissen, wie es geht. Jetzt sind wir immer noch draußen, wir kennen uns aus, wir können noch Karte lesen, wir können sogar nachts die Sterne lesen. Wir haben das Gefühl, dass es den Eltern immer noch nicht interessiert, die Kinder verdrehen die Augen, keiner möchte mit.
Es gibt aber Leute, sie sich schon Lust auf eine Tour hätten, wenn man sie nur fragt: Die Generation 70-plus hat insgeheim Radfahren gelernt. Sie versammeln sich in nagelneuen reflektierenden Outfit aus dem Sportgeschäft und mit Hilfsmotor. Das sollen sie ruhig so tun, ich habe nichts dagegen. Aber sie sollten es bitte schön unter sich tun, am Sonntagmorgen um acht.
Ich bin bei meiner Tochter Sophie in der WG, auf der Fensterbank stehen zwei Avocadobäume. Zum Anfassen, keine digitale.
Es dauert Wochen, bevor aus dem Kern ein Keim wächst, versichert sie mir. Man muss schon Geduld haben. Also doch. Diese Avocadopflanzen haben Namen. Der eine heißt Henry. Und der andere? Ein Mitbewohner namens Wille kommt rein, er hat eine Papiertüte mit Gemüse vom Markt im Arm.
Die Studenten hier gehen auf die Straße für eine bessere Umwelt, sie kaufen in Unverpacktläden oder auf dem Markt ein, fermentieren ihr Gemüse selber, trocknen Pilze im Dörrgerät. Und Obst auch. In einigen Jahren ernten sie eigene Avocados, auch wenn wir damals schon immer wussten, dass das nie hinhauen würde. Vielleicht haben wir nicht aufgepasst. Oder wir hatten einfach keine Geduld, wir waren schließlich die Generation des schnellwachsenden Gummibaumes.
Ich weiß es jetzt. Wir befinden uns doch draußen, es wachsen noch keine Avocadobäume unter freiem Himmel hier. Vielleicht später mal, das Klima soll sich ja ändern. Wir fahren durch die Landschaft auf unseren Rädern, vergessen mal wieder, uns gegen das UV Licht zu schützen und wissen, bald sehen wir aus, als hätten wir eine Nacht im Dörrgerät verbracht. Dann nimmt keiner uns noch ernst. Nur die Leute am Sonntagmorgen in der Radsportgruppe. Geduld!
Einen Kaffee bitte. Die Bedienung mit dem kurzen Pony guckt mich ernst an. Ich weiß, das trinkt man nicht, vor allem nicht nachmittags. Flat White sagt sie. Ich sage nein. Denn das geht an mir vorbei wie etwas, was ein Vogel fallengelassen hat. Latte Macciato versucht sie. Nein, sorry. Neben mir sitzen 4 Studenten um einen Tisch, sie trinken Ingwertee, essen Vollkornbrot mit Hummus, haben Lernunterlagen über den Tisch ausgebreitet. Sie tippen auf ihren Bildschirmen.
Ich verdrehe die Augen und bestelle einen Espresso.
Vielleicht kaufe ich mir auf dem Flohmarkt wieder ein swatch-Telefon, aus den 80-er Jahren, mit einer Schnur und einer Festnetznummer, eins das blau aufleuchtet, wenn jemand anruft, so denke ich.
Dann kann ich auf dem Boden liegen, es hat ein langes Kabel. Ich kann den ganzen Nachmittag telefonieren und dabei Kaffee trinken, ohne dass jemand hereinkommt und sagt „jetzt reicht’s“. Ich kann Schallplatten hören und meinem Freund erzählen, welche Platte gerade aufliegt und wie ich sie finde. Das kann ich endlich in Ruhe so machen, die Kinder sind auf einer Demo unterwegs.
Ich bezahle und gehe.
Ich steige auf mein Fahrrad aus 1962, fahre nach Hause. Es ist ein schlankes, leichtes Rennrad. Ich will nicht in eine Sportgruppe aufgenommen werden, ich ziehe nicht gerne Funktionssachen an, ich brauche gerade keine Funktion.
Vielleicht will ich einfach nur draußen sein und den Wind in den Haaren spüren.
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