Erzähl ihr bloß nicht zu viel, warnt mein Vater meine Mutter, denn bevor du es weißt, schreibt sie einen Artikel darüber. Bestimmte Rezepte sollten in der Familie bleiben. Wir stehen im flämischen Schlamm des Gemüsegartens, tragen Gummistiefel und reden über Weihnachten, und was gekocht wird dieses Jahr. Da die Feier ausfällt, wäre vielleicht ein Lagerfeuer und Austern eine gute Idee.
Meine Mutter erntet den Rosenkohl, sie freut sich über die festen, geschlossenen, dunkelgrünen Röschen. Es sind die Knospen der Rosenkohlpflanze, versichert sie mir, etwas ganz anderes als gewöhnliche Kohlköpfe. Es nieselt, mir ist kalt.
Die Hühner auf der Wiese sind hektisch auf der Suche nach Würmern, und die Schafe rennen in den Obstgarten hinein, den mein Vater gerade geöffnet hat. Dort liegt das Fallobst, es zieht sie magisch an. Vielleicht wegen der weihnachtlichen Farbe der Äpfel. Sie fressen sich voll und torkeln berauscht über die Wiese. Die Hühner mischen sich ein und werden immer lauter und frecher.
Es fühlt sich schon ein bisschen wie Weihnachten an. Die Betriebsfeier zur fortgeschrittenen Stunde.
Erzähl hier bloß nicht zu viel, warnt Berthold Westhoff, alles wird gespeichert, und bevor du es weißt, machen sich deine Worte selbständig und reisen in die Welt hinaus. Ich bin wieder in Aachen, stehe in seinem Atelier und sehe mir eine Plexiglaswand an.
Die hat nichts mit Corona zu tun, sie ist eine Installation des Künstlers, doppelwändig und gebogen. Wenn man lange genug hinschaut, sieht man aus dem Nichts Gesichter erscheinen, im Profil. Und auch Farben, Formen. Es sieht so aus, als liege dort, hinter dem Plexiglas, eine ganze Welt. Sobald die Beobachterin sich bewegt, sieht sie etwas anderes. Stellt sich jemand neben sie, kann sie die Person in den Tiefen der anderen Welt erkennen.
Ich denke an Weihnachten.
Ich will hinein gehen. Berthold sagt, ich soll mich umdrehen, der Eingang wäre hinter mir. Ich drehe mich um, sehe eine weitere Installation aus Plexiglas, auch gebogen, aber mit einem Eingang. Dieses Kunstwerk kann man betreten. Ich gehe hinein, und es ist, als beträte ich einen Traum. Ich sehe die Dinge, aber sie spiegeln sich. Nicht hart und klar, wie bei einem normalen Spiegel, sondern weich und milchig, geheimnisvoll schimmernd. Kann jemand mich sehen? Die Künstler Manfred und Berthold stehen dort, Kaffeetasse in der Hand, und nicken. Können sie mich auch hören? Gedämpft, wie sich herausstellt. Ich sehe kleine, bunte Lichter in der Tiefe, ich will sie greifen, aber weiß, dass sie nur gespiegelt werden. Ich weiß jedoch nicht, wo die Lichtquelle ist.
Wo leuchtet der Weihnachtsstern?
Kunst verbindet, denke ich. Das ist der eigentliche Arbeitstitel des Stipendiums Stadtschreiberin.
Diese Installation muss unbedingt während der Eröffnungsveranstaltung am 1. August in der Kunsthalle Hamburg aufgebaut werden. Sie ist wie geschaffen für die Galerie der Gegenwart, zumal sie alles zusammenfasst, was in der Welt gerade los ist.
Denkraum, sagt Berthold, denn es gibt ja keinen Raum an sich. Er muss zuerst gedacht werden, bevor er entstehen kann. Also Raum denken. Endlosen Raum kann man sich zusammendenken. Hier entsteht eine Plexiglaswelt in der stillen Coronawelt.
Ich warte auf den Moment, an dem ich aus diesem Raum aufwachen werde, verwirrt und erleichtert. Ich sehne mich nach dem Gefühl, wenn jemand mir Guten Morgen sagt und Wie unruhig du geträumt hast heute Nacht. Und ich, verschlafen, dankbar, mit wirrem Haar, bekomme einen frisch gebrühten Kaffee in die Hand gedrückt, um langsam in den neuen Tag zu gleiten.
Ich bekomme einen Kuss ohne Mundschutz.
Es ist fast Weihnachten.
Ruhe auf den billigen Plätzen!, sagt meine Tochter, als sie mit einer Tüte Chips an meinem Sessel vorbeiläuft, und ich welche davon abbekommen wollte. Sie lässt sich zusammen mit ihrem jüngsten Bruder ins Sofa vorm Fernseher fallen. Ich bleibe am Kamin mit meinem Wein. Ich versuche, dennoch an die Chips zu kommen, indem ich mich wohlwollend nach ihrer letzten Videokonferenz erkundige. Sie studiert Biologie und Ernährungswissenschaften, hatte ein Meeting mit den Leuten vom Campusgarten. Was sie besprochen haben? War es interessant? Hat es etwas mit Weihnachten zu tun?
Marzipankartöffelchen? Christrosen?
Wir brauchen nicht nur Steckrüben, sondern auch Schwarzkohl nächstes Jahr. Der schmeckt und ist ein wertvolles Gemüse, lautet die Antwort. Und Freilandgurke Tanja muss unbedingt mit ins Beet. Sie stopft sich Chips in den Mund und konzentriert sich auf das Fernsehprogramm.
Dort sitze ich in meinem Sessel, Freilandgurke Tanja, denke ich. Es reicht ja nicht, dass ich die Eltern beim Rosenkohlpflücken treffe, wie in einem Land weit im Osten, das irgendwann der Europäischen Union beitreten möchte, aber die Bedingungen noch nicht geschafft hat. Jetzt fangen die eigenen Kinder auch noch an, einheimisches Gemüse anzubauen und saisonale Kohlsorten aufzutischen.
Heute Abend gab es Rübensuppe, liebevoll von meiner Tochter gekocht. Ich weiß, ein wahres Trendgemüse, man stellt sich schon seit einiger Zeit für Werbeaufnahmen auf den Acker, mit Gummistiefeln und frisch geernteten Rüben in der Hand. Gut sitzende Jeans, strapazierfähige Wachsjacke, Karohemd. Wollmütze. Mir schmecken diese blassen Dinger dennoch nicht, ich finde sie auch nicht schön. Nicht einmal, wenn sie als Weihnachtsgruß verschickt werden.
Ich bin kein Schaf, hätte ich zu meiner Verteidigung einzuwerfen, aber Schafe essen keine Rüben heutzutage, sie bekommen schöne und leckere Äpfel.
Wo ist der Champagner? Wo sind die Feiern mit den vielen Gästen und den schlauen Sprüchen? Wo sind die Diskussionen, die geheimen Rezepte, die man nie verraten soll, wo ist die Musik, das Lachen, das freie Reden ohne Stoffmaske, das Diskutieren mit dem Glas in der Hand? Die Musiker? Wo ist der unwiderstehliche Duft einer Person, die man sehr mag, und die Nähe, die schwindelig macht?
Das Feuer im Kamin knistert fast weihnachtlich, ich esse Schokolade, weil ich keine Chips bekommen habe. Der Wein ist tiefrot und warm, er glüht schon. Geht doch.
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