Das helle Dinkelbrot ist aus. Ich kann Ihnen ein Vollkorndinkelbrot anbieten, bestimmt eine der Bäckereifachverkäuferinnen, die anderen drei nicken einstimmig. Ja, warum nicht. Das helle ist locker, leicht, mit knuspriger Kruste, ein Traum, aber Vollkorn ist bestimmt gesund.
Es besteht nur aus Dinkel und aus der Ackerbohne, das ist die deutsche Sojabohne, so wird noch ergänzt. Aha. Meine Kinder haben ein Spiel, Bohnanza. Die Figuren sind zum Beispiel Saubohnen, die sich im Schlamm suhlen, Brechbohnen, denen geht’s gar nicht gut, Blaubohnen, mit einem blauen Auge, Prinzessbohnen, mit einem Krönchen auf. Ich weiß nicht mehr, wie die Ackerbohne aussieht. Ich denke, sie ist die gleiche wie die Saubohne. Es gibt auch noch Feuerbohnen. Aber egal.
Die Ackerbohne, so lerne ich jetzt, enthält Antioxidantien, die die oxidativen Prozesse in den Zellen verlangsamen und so vorbeugend gegen Krebs wirken. Die Bäckerei setzt sie ein, um das Brot saftiger zu machen. Das hört sich gut an. Aber ich kenne da ganz andere Geschichten. Ich habe nämlich mal von dieser Bohne gehört, dass sie für manche Menschen mit einem bestimmten Gendefekt tödlich sein kann. Dann werden die roten Blutkörperchen abgebaut, und die Personen werden ganz blass und sterben. Aber meistens nur, wenn sie die Bohnen roh essen. Meistens. Diese Bohne ist mir nicht sympathisch. Das Brot? Ja, kaufe ich. Gibt Punkte auf der Kundenkarte.
Mein mittlerer Sohn ist zuhause, er ist 20 und spielt Fußball. Dann müssen Kalorien her. Unmengen, ganze Kühlschränke voll. Am besten schnell verfügbare. Nachts. Wo aber das übliche Dinkelbrot luftig auf dem Teller liegt, locker und angenehm schmeckt, ist die Vollkornvariante schwer, feucht (das kommt durch die Ackerbohne, ich weiß es jetzt) und kompakt. Ich rechne aus, von diesem Brot braucht ein richtiger Fußballspieler nur 3 Scheiben, statt der üblichen 12.
Weit gefehlt. Der Fußballspieler guckt sich das Brot an, runzelt die Stirn, nimmt das Toastbrot aus dem Schrank.
Ich habe einen Verwandten, der in den 70-er Jahren die Tour de France mitgefahren ist. Mein Bruder und ich waren als Kinder oft bei ihm zu Besuch, das ganze Haus hing voller Fahrradtrophäen. Das Fernsehen lief, immer Radsport. Den Sportler selber haben wir nur selten zu Gesicht bekommen. Aber wenn wir ihn gesehen haben, war er dabei, zu essen. Seine Mutter erzählte uns Kindergartenkinder stolz, dass ihr Sohn 10 Butterbrote nacheinander aß.
Jetzt bin ich mir sicher, dass es Weißbrot war. Wie soll man denn 10 Scheiben Vollkornbrot essen, ohne nach Kilometer 36 auf Toilette zu müssen? Diese ganzen Fasern tun doch etwas im Körper. Aber es waren die 70-er Jahren, man hat das alles nicht so verkrampft gesehen. Die Fahrräder waren nicht so professionell wie heute, alles war weniger durchgeplant. Keine Hightech-gels, keine Superfoodriegel, keine Profigetränke, einfach Butterbrote. Es schwebte noch eine Wolke der Magie um den Rennfahrern mit den Sonnenkappen, die auf langen und anstrengenden Etappen durch die unglaubliche Landschaft von la Douce France fuhren. Man sah ihre sonnengebräunte Haut, man konnte sie anfassen, man war sehr nah dran, sie hatten keine angsteinflößenden Helme auf.
Die Mutter des Radprofis gab uns noch ein Stück Honigkuchen, und dann gingen wir zum nächsten Haus, dort wohnte unsere Oma. Die Gärten grenzten aneinander, wir kamen in Omas Garten hinten am Schwimmbad aus. Dieses Schwimmbad hatte unser Opa selber gegraben, es war unfassbar groß und auch sehr tief. Wir versuchten bis zum Boden zu tauchen, wo es dunkelgrün und sehr kalt war. Dort in der Ecke war eine runde Öffnung, relativ groß, wir wussten, das war der Filter, und Kinder konnten darin verschwinden. Das machte das Ganze zu einem gruseligen Abenteuer. Das Haus der Großeltern war weit weg, der Garten ist lang und schmal. Keiner würde es mitkriegen, wenn wir vom Filter verschluckt wurden.
Aber wir passten auf, tauchten nur an der anderen Seite. Immer tiefer ging das, bis man keinen Atem mehr hatte und der Druck auf den Ohren sehr stark wurde, so dass man schnell wieder auftauchen musste. Es war ein Spiel, ganze Frühsommertage lang, und als wir aus dem Wasser kamen, hatten wir blaue Lippen und konnten nicht still stehen bleiben, weil der ganze Körper zitterte.
An manchen Tagen konnte man über das Gras rennen, die ganze Strecke bis zum Haus, um wieder warm zu werden. An anderen Tage klappte das nicht, weil der Klee hoch stand und wir wussten, wie ein Bienenstich ganze Sommertage verderben konnte. Der Geruch von Essig in der Sonne, der dumpfe Schmerz im ganzen Fuß, der Geruch von Gras, von Ferien.
Ich gucke aus dem Fenster. Es ist dunkel, es stürmt. Die Hagelkörner und der Schnee schießen waagerecht am Fenster vorbei. Blitze zucken durch den Himmel. Der Donner folgt sofort. Ich überlege, die Winterstiefel anzuziehen, die dicke Jacke, ich muss nur 95 Meter gehen. Luftlinie. Der Weg geht aber über einen steilen Abhang, so steil, dass man ihn nur zu Fuß gehen kann, man muss sich dabei am Geländer festhalten. Vielleicht klappt es auch mit einem Mountainbike, wenn man lebensmüde ist. Unten am Hang ist die Straße, und dort ist der Weinladen. Er hat bis 19:30 auf, ich habe noch 40 Minuten.
Gibt es etwas Schöneres, als durch einen Eissturm zu stapfen, sich am Geländer festzuhalten, der Winterhimmel voller Blitzgewitter? Der Hagel ins Gesicht, der Weg hinunter glatt und gefährlich? Durch den Gewölbekeller des Weinladens läuft ein Bach. Dort ist es dunkel und kühl, aber es gibt keinen Wasserfilter, in dem man verschwinden kann. Der Laden riecht nicht nach Essig und Sommer, sondern nach Wein, nach Weinkeller und nach Winter. Keiner bekommt mit, dass ich dort verschwinde. Ich bin eine ganze Weile weg, denn ich bekomme die beste Beratung, die ich mir wünschen kann. Dazu phantastischen Wein. Und ich habe eine Kundenkarte. Ha!
Der Weg zurück ist steil und anstrengend, aber ich habe genau den Wein unterm Arm, der perfekt für diesen Abend ist www.der-wein-laden.eu. Der Geruch von Feierabend.
Der Kamin ist an, ich lege eine Schallplatte auf. The Köln Konzert von Keith Jarret. Ein Geschenk von meinem Lieblingshamburger. Ich werde den Wein öffnen, ihm ein bisschen Zeit geben.
Heute entscheide ich, die Ackerbohne einfach mal zu vergessen.
Antioxidantien im Rotwein, ich bin mir sicher, da war doch was.
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