Ich habe jetzt ein Buch von Rembrandt vor mir liegen. Ich sehe, wie er auf den Selbstportraits in Stille altert. Was für ein plastischer Ausdruck der Zeit. Wie ist es mit meiner Zeit in Hamburg? Dies ist der letzte Monat hier, einige Sachen müssen noch gefestigt werden, damit sie für immer lebendig bleiben. Je intensiver man Momente erlebt, um so tiefer bleiben sie in der Erinnerung haften. Die Zeit kann man eben doch anhalten.
Ich nehme mir vor, nächste Woche noch mal in die Kunsthalle zu gehen, einen Blick auf die Schätze werfen dort. Einmal reicht natürlich nicht. Ich werde ins Kabinett absteigen, ins Kupferstichkabinett. Heute ist eine ganz andere Art von Kabinett in Hamburg angesagt. Es läuft die Umweltminister-Konferenz und damit werden 4.000 Trecker in die Stadt gelockt.
Kabinett kommt von petite cabine, cabinette, also eine kleine Kammer, ein Hinterzimmerchen, mit Hintertürchen, wir sind hier letztendlich in der Politik.
Eine flinke Bäuerin mit strahlend blauen Augen und rote Backen hat mir eben am Jungfernstieg einen Flyer in die Hand gedrückt, als ich mit meiner Tochter Sophie durch die Sonne Richtung Bücherhallen spazierte. Sophie: „diese Leute muss man bewundern, die wissen wenigstens, wie sich Erde in Essen verwandelt, wir brauchen die noch“. Wir grüßen freundlich die Landwirte, die neben den Treckerkolonnen durch die Stadt marschieren und verraten diesmal nicht, dass wir Veganer sind. Man muss wissen, welche Info wann hilft.
In den Bücherhallen ist mittags richtig viel los, es laufen –bewundernswert geordnet- Schulklassen durchs Gebäude, die Kinder voller Elan, mit glänzenden Augen, nicht, weil sie der Bücherschatz so beeindruckt, sondern weil sie nicht in der Klasse stillsitzen müssen, die Lehrer argwöhnisch über so viel Freude. Sie blicken suchend um sich, trauen der Situation nicht, kennen die Risiken eines solchen Ausflugs, aber haben ihn nichtdestotrotz heute morgen tapfer angetreten.
Ich stelle das Rembrandt-Buch wieder ins Regal und denke über die Maler aus den Niederlanden nach, ich habe eine Landschaft von Pieter Breugel im Kopf, vielleicht die Jäger im Schnee, das in Wien hängt. Das war noch ein halbes Jahrhundert vor Rembrandt.
Den ganzen Tag sieht und hört man die Trecker durch Hamburgs Innenstadt fahren. Sie sind morgens früh in Formation gekommen, wollten zum Gänsemarkt, klar, wohin denn sonst, war doch gerade Sankt Martin. Ich sehe mir die Maschinen an und frage mich, wieso alle durch die Stadt fahren müssen. Ich erinnere mich an andere Trecker von früher, nützliche Trecker, die einen gerettet haben. Zum Beispiel, wenn man eingeschneit war.
Als ich noch in Düsseldorf gewohnt habe, gab es immer wieder mal viel Schnee im Winter und dazu Messegäste, die ein Hotel im Umland gebucht hatten. Sie hatten meistens ihre Fahrkunst auf den glatten Wegen total überschätzt.
Aber wenn man im Düsseldorfer Umland vom Weg abkommt, gibt es Rettung. Agathe, ein schöner, blonder Engel kommt auf einem Trecker durch den Schnee gepflügt und bringt die verlorenen Messegäste schnell und ohne Weiteres wieder auf den richtigen Weg. Meine Freundin Agathe.
Weitere Erinnerungen kommen jetzt, Erinnerungen aus meiner Kindheit. Der Januar hat die Bäume einfrieren lassen, so dass wir das Knacken im Holz gehört haben. Die Teiche waren zugefroren, die Fenster in unserem Haus hatten eine Eisschicht an der Innenseite. Januar hat den Verkehr zum Stillstand gebracht. An einem Dreikönigstag vor langer Zeit lag der Schnee dick und weich über die Landschaft. Sogar bei uns im Flachland.
Wir wollten mit dem alten Auto und dem Hund an die Küste fahren, meine Schwester und ich. Wir wollten einen Freund von mir besuchen, der uns in sein Ferienhaus eingeladen hatte. Wir haben uns mühsam durch den Schneesturm gepflügt, das Auto hat aber nach wenigen Kilometern schon aufgegeben. Wir mussten in ein Bordell hineingehen, denn sonst hatte alles zu, um unseren Nachbarn anzurufen.
Als er mit seinem Trecker ankam, war unser Auto komplett eingeschneit. Er hatte ein Tau dabei, er hat uns abgeschleppt. Zuhause waren die Leitungen eingefroren und die Heizung ausgefallen. Wir haben ein Holzfeuer im Kamin gemacht und aus den Schlafzimmern Decken geholt, in denen wir uns eingewickelt haben. Zu essen gab es Linsensuppe aus der Dose, im Kamin warmgemacht. Nachdem der Nachbar den Trecker nach Hause gefahren hat, ist er noch mit Schnaps vorbeigekommen. Er hat sich weiter ums Feuer gekümmert. Das konnte er. Er wusste, wie man ein gutes Feuer macht. Er hat bei uns übernachtet, in der Mitte.
Einige Tage später, als die Straßen geräumt waren und die Sonne schien, haben wir Waffeln gebacken. Wir haben sie ins Bordell gebracht, um uns für die Hilfe zu bedanken. Sie waren noch warm. Die Besitzerin hat sich gefreut, sie hätte sonst niemanden, der für sie Waffeln backt.
Daran erinnere ich mich, wenn ich auf dem Fahrrad durch die Kälte am Bahnhof vorbeifahre. Es gibt bestimmt Leute, die gerne frisch gebackene Waffeln bekommen würden, einfach so. Backen Sie nächstes Mal ein paar mehr, und verteilen Sie sie auf der Straße.
Breugel hat oft die Bauern im Herzogtum Brabant gemalt, das einfache, harte Leben, das Leiden und auch das Feiern, die schwere Arbeit, lange bevor es Trecker gab.
Die Menschen, die Landschaft, die Weite, die Stille.
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