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Die Spinne von St. Pauli

22! 22 was? Das ist weder mein biologisches Alter (ich liege knapp darüber), noch meine Glückszahl. 22 Paar Schuhe befinden sich in meinem Besitz. Wieso bringe ich das zur Sprache? Auf der Reeperbahn habe ich ganz viele Menschen getroffen. Es ist so eine Angewohnheit von mir, dass ich die Leute frage wie viele Schuhe sie haben. Die meisten mit denen ich hier gesprochen habe, die so gerne gemieden werden, weil sie sitzen und somit sogar von Kindern herabgeblickt werden, antworteten mir ein Paar. Hier zeigt sich die eigentliche Grausamkeit der Armut: Man hat einfach keine Reserven. Meine Mama ist Sachbearbeiterin. Nicht im klassischen Sinne. Nein, sie arbeitete als Reinigungskraft in der Grundschule und schob, putzte, polierte das Mobiliar. Dort habe ich sie unzählige Male besucht. Viele Menschen haben keine Ahnung, was Leute im Reinigungsdienst alles leisten müssen. Wer einmal einen Arbeits-Tag mitgemacht hat, wird sich nie wieder weigern seinen Stuhl am Ende des Schultages hochzustellen und hoffentlich nicht ohne Gruß an den Reinigungsleuten vorbeigehen.


Meine Mama hat mich immer unterstützt und wie vermutlich alle Mütter hat sie sich für mich etwas Besseres gewünscht. Mein Lebenslauf ist jedoch ein einziges Desaster. Sollte ich jemals für den Bundestag kandidieren, bräuchte ich eine Busladung voller Mitarbeiter, welche diesen Lebenslauf in Form bringen. Vor einigen Jahren habe ich mein Abitur nachgemacht. Abendschule, parallel Arbeiten. Keine so einfache Nummer. Zum Lernen traf ich mich einmal mit ein paar Klassenkameradinnen im McDonalds. Während wir über Mathe-Aufgaben brüteten, hörten wir schräg gegenüber von uns drei Typen lachen. Als sie an uns vorbei gingen, beugten sie sich zu uns runter und sagten: "Na ihr Hauptschülerinnen, gebt es auf, das packt ihr nie!" Ich war schockiert. Der Mechanismus, dass fremde Leute einen beleidigen ist mir leider nicht unbekannt. Wegen meiner Schuldbildung war mir das aber bislang noch nie passiert. Redet man mit den Menschen hier, denen die Warten und Suchen, ist ihnen jede Form von Beleidigung gewahr. Sie mögen die Touristen. Die seien noch nicht abgestumpft und lassen öfter mal was springen. Außerdem beobachten sie gerne Leute die sich fürs Theater oder Musical schick machen. Die mag ich auch. Finde es schön, wenn ein ganzes Theater nach frisch gewaschenen Menschen riecht und nach dem obligatorischen Hustenkonzert das eigentliche Stück beginnen kann. Im Schmidts-Theater darf man Essen und Trinken. Hunger und Durst müssen also nicht an der Garderobe abgegeben werden, sondern Käseigeln vom Platz ist nicht nur ok, sondern auch ausdrücklich erwünscht. Ich konsumiere hier reichlich. Bei der heißen Ecke laufen mir die Tränen, so schön finde ich diese musikalische Liebeserklärung an ein Viertel und seine Menschen. Wenn ich wiedergeboren werden sollte, dann doch bitte als roter Plüschplatz im Schmidt-Theater.


An der großen Freiheit kommt mir ein Mann mit mehr Luft in den Muskeln, als ich in der Lunge habe entgegen. Er fragt ob ich die Uhrzeit habe, seine Uhr sei stehen geblieben. Ist halt nicht alles Gold was glänzt. Er riecht nach Sonnenstudio und als ich ihm die aktuelle Zeit nenne, sagt er: „Vielen Dank escht korrekt von dir!“


Ich unterhalte mich mit dem Radio-Kapitän. Ich nenne ihn so, weil er immer Radio hört und etwas kapitänisches hat. Er sagt mir, dass er nur Nachrichten hört.


Bergfest auf dem Kiez. Ich hab Kopfweh und suche eine Apotheke auf um ne Packung Ibuprofen zu erwerben. Vor mir holt ein junger Mann seine Substitutionsmedikamente ab. Die Apothekerin, behandelt ihn gar nicht anders als mich, was mich ziemlich froh stimmt. Die soziale Missbilligungsskala reicht gerade in der Apotheke von verweigerten Apotheken-Tempos, zu Getuschel bei der Medikamentensuche, bis hin zu offenem Anzweifeln, dass das Rezept echt ist.


Mittlerweile habe ich einen eigenen Kiez-Gang entwickelt. Weiche den Urin-Flecken auf dem Spielbudenplatz geschickt aus. Der Radio-Kapitän hört wieder Nachrichten. Ich bin hinter seinen Trick gekommen. Er hört Nachrichten Classics. Er kennte schon alle Nachrichten. Deshalb juckt ihn nie irgendwas.


Ich entdecke eine Spinne. Sie wohnt an der Straßenkreuzung zur U-Bahn. Es ist schön zu sehen, dass sie ihren Platz gefunden hat. Uns Lebewesen ist gemein, dass wir um unsere Existenz kämpfen müssen. Manche freilich mehr als andere.


Texte die das Leid anderer beschreiben finde ich grenzwertig. RTL 2 hat sein ganzes Programm auf Reportagen, allesamt Elendspornos spezialisiert. Das hier soll nicht so wirken. Dennoch, so finde ich, kann man kann nicht über St. Pauli schreiben, ohne eben die zu erwähnen, die in keinem Wahlprogramm auftauchen, weil ihre Stimme für niemanden von Belang ist.


Am meisten hat mich hier auf dem Kiez die Frau mit dem einen Buffalo-Schuh betroffen gemacht. Ihr wurde ein Bein amputiert. Ich stelle mir die ganze Zeit die Frage, wo der zweite Buffalo wohl sein mag..

Schlussakkord auf St. Pauli. In den Barber-Shops werden abends so unglaublich viele Haare zusammen gekämmt. Neue Idee für mehr ökologisches Selbstverständnis: Haare beim Friseur einpacken und mitnehmen. Sollte Olaf Scholz für sich anpacken. Ist irgendwie in seinem Fall ein wenig wie sein Wahlkampf. Die Spinne ist nicht mehr da. Ich habe die ganze Laterne abgesucht. Vermutlich wurde sie verscheucht.




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