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Autorenbildkatelijne7

Gletscher überqueren

Aktualisiert: 9. Apr. 2021

Der Mathematikprofessor im Wartezimmer der Hausarztpraxis erzählt, dass seine Frau letzte Woche schon geimpft worden sei. Obwohl sie beide gleich alt sind, fast achtzig, konnte nur sie geimpft werden. Begleitpersonen würden nicht mitgeimpft, das ginge gar nicht, meinte die zuständige Person des Impfzentrums. Er wäre noch nicht ausreichend in Gefahr, halt keine echte Risikoperson und eben noch keine achtzig Jahre alt. Er solle also später wiederkommen, sobald er das entsprechende Anschreiben bekommen hätte. Jetzt sucht der Professor noch eine Begleitperson, die demnächst mit ihm fahren kann, wenn er dran ist. Seine Frau fühlt sich nicht sicher genug für den Straßenverkehr.


Und, wie wäre es mit einer Impfung?, strahlt Jan, der junge Hausarzt, mich übermütig hinter seiner Maske an. Hm. Ich darf jetzt schon? Mich einfach so impfen lassen? Ich überlege. Hat er etwa zu viel bestellt und es gibt zu wenig Überachtzigjährige? Handelt es sich hier um eine abgelaufene Fuhre Stoff? Oder spielen wir russisches Roulette? Sputnik! Ich überlege, ins Wartezimmer zurückzurennen, denn dort wartet der Professor. Ich würde ihn vorlassen. Mohammed, der Medizinstudent, beobachtet meine Reaktion.

Ich meine, Tetanus, sagt der Arzt.

Tollwut, antworte ich. Keuchhusten.


Schauen wir später, überlegt er, zuerst versuchen wir die Schulter wieder zu mobilisieren.

Ja, die Schulter, deshalb bin ich hier. Ein Skiunfall.


Jetzt zieht der Arzt scharf die Luft ein.

Freiheit, blaue Luft, glitzernder Schnee, eine unfassbar schöne Natur, der See da ganz unten zwischen den Bergen. Die schneebedeckten Tannen, endlose Pisten, fast kein Mensch unterwegs.

Einen ganzen Tag Bewegung, voller Energie, das Kaminfeuer am Abend, rote Backen, glänzende Augen, ein Rotwein und die herrliche Müdigkeit. Der tiefe Schlaf in den weißen Daunendecken. Und vor allem das Gefühl der Ewigkeit, so nah. Keine Sorgen, keine Krankheiten. Und was ist mit der Schulter? Tat das nicht weh?

Die Bergwacht bringt verletzte Personen mit faszinierender Geschwindigkeit ins Tal, es ist göttlich, mit ihnen zu fahren. Diese Anmut, dieses Einssein mit dem Hang, mit dem Schnee, diese Rettungsausrüstung. Für jegliche Gefahr gerüstet. Trinken Sie erst mal ein Weizenbier, bis der Krankenwagen kommt.

Oder zwei. Letztendlich haben wir den Krankenwagen wieder abgesagt, das Weizen hat gereicht, und es war eh der letzte Tag des Urlaubs. Die Großartigkeit der Berge!

Le Peloton de Gendarmerie de Haute Montagne!


Nicht dieses Jahr, befreie ich den Arzt aus seinem aufkommenden Neid, vor drei Jahren ist das passiert. Erleichtert nickt er.

Jetzt sind wir quitt.

Er schreibt mir eine Überweisung für ein MRT. Wobei, zögert er noch, das Quartal sei jetzt schon zu Ende. Es kann sein, dass eine Überweisung am 31. März nicht in den April hineingenommen werden kann. Ich sehe ihn an. Eine Überweisung in ein neues Quartal mitnehmen. Das ist fast so waghalsig wie eine Gletscherüberquerung.


Der Mittelfinger des Arztes ist in einen blauen Verband eingepackt. Das war ein Unfall, behauptet er. Es sei beim Sockenanziehen passiert. Die schlimmsten Unfälle passierten im Haushalt. Das habe ich schon so oft gehört, aber es stimmt nicht. Was so im Haushalt passiert, ist ärgerlich und meistens dumm, aber es sind nicht die schlimmsten Unfälle. Was ist mit dem Streicheln eines zahmen Frettchens im Wald, das eigentlich Tollwut hat? Es benimmt sich zuerst zutraulich, man denkt, es ist süß oder einfach träge, müde. Innerhalb von Millisekunden kann es jedoch zur tödlichen Attacke übergehen. Wenn man dann die Bisswunde nicht sofort mit Spüli oder Seife auswäscht, wandern die Viren ins zentrale Nervensystem. Man bekommt Kopfschmerzen, wird reizbar, empfindlich gegen Licht, bekommt hohes Fieber. Nach drei bis acht Wochen bricht die Krankheit aus und man verkrampft, bekommt eine Todesangst, vor allem vor Wasser, kann nicht mehr schlucken, fällt ins Delirium, und stirbt.

Das nenne ich eine Gefahr. Viren, die unsichtbaren Killer.


Socken anziehen kann man lernen.


Der Hausarzt wünscht mir Frohe Ostern.

Frohe Ostern, erwidere ich und sehe Mohammed an. Er lächelt hinter seiner Maske und schließt kurz die Augen.

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