Der Mann macht einige Schritte in meine Richtung. Er ist groß, breitschultrig, schmalhüftig und hat kurz rasierte Haare. Er trägt eine enge schwarze Hose, schwarze Stiefel, ein schmal geschnittenes schwarzes T-Shirt. Ich will wissen, was er denkt, ob er überhaupt etwas denkt, aber ich erkenne keine Mimik. Er hat eine Sonnenbrille auf. Auf der Brust steht in kleinen weißen Buchstaben Security.
Er kommt auf mich zu und sagt etwas, ich verstehe nicht, was. Die Mundmaske filtert jeden Laut. Sie ist auch schwarz. So unauffällig wie möglich sehe ich um mich. Gibt es noch mehr solcher Wachmänner? Oben auf dem Kai sehe ich noch einen, auch mit Sonnenbrille und Mundmaske, anscheinend unbewaffnet.
Ich will an Bord eines Schiffes gehen und in See stechen. Ich fühle mich, als hätte ich gerade den größten Diamantenraub der Geschichte getätigt und der Geheimdienst ist kurz davor, mich zu stellen. In einem Film würde jetzt unheimliche Musik ertönen, so dass der Zuschauer weiß, es wird spannend. Meine Augen gleiten im Hafen über die Gebäude um mich herum, wo weitere Agenten sich aufhalten. Ich sehe keine.
Der Security-Mann, der nun auf 1,5 m Abstand vor mir stehen bleibt, wiederholt seinen Geheimcode, den ich nicht verstanden hatte: Gesichtsmaske bitte aufsetzen, sagt er. Ich sehe ihn ungläubig an. Muss er sich für eine einfache Gesichtskontrolle so anziehen? So zieht man sich an, wenn man einer großen Verbrecherbande auf der Spur ist, nicht wenn man kontrolliert, wer auf der Fähre will. Ich hole die Gesichtsmaske aus meiner Tasche, ziehe sie an und sehe ernst vor mich hin. Die Fähre kommt, ich gehe an Bord, der Security-Mensch folgt mir.
Das Ostufer von Ostende erreicht man, indem man die Fähre im Hafen nimmt, unten an der Fischtreppe. Sie fährt alle fünf Minuten hin und her, kostet nichts, es dürfen zur Zeit nur eine bestimmte Anzahl von Personen und drei Fahrräder pro Tour einsteigen. Die Security sorgt dafür, dass alle Fahrgäste eine Gesichtsmaske aufhaben, denn das ist in Belgien in öffentlichen Verkehrsmitteln Pflicht.
Ob denn hier strenge Infektionsschutzgesetze befolgt werden? Karel, der mir in seinem Lebensmittelgeschäft mitten im Hafen Schokolade verkauft, schüttelt den Kopf. Belgier umschiffen die Gesetze. Und wieso? Weil wir der Behörde nicht trauen. Wieso sollen eine Handvoll Theoretiker über unsere Arbeit entscheiden? Er zeigt mir seine Hände. Ehrliche Arbeit, sagt er, harte Arbeit. Aber auch gutes Essen, wahre Freunde, die zum Feiern kommen, die helfen, wenn man Hilfe braucht. Hier gelten andere Gesetze.
Internationale Gewässer, denke ich, hier im Hafen von Ostende.
Der Strand ist endlos, von Dünen gesäumt, in den Dünen liegen Bunker. Es ist gerade Ebbe und auf den Wellenbrechern sammeln sich die Möwen, auf der Suche nach Muscheln. Der Sturm jagt Wolken von Sand über den Boden, ständig entstehen neue Zeichnungen, neue Formen, eine neue Welt.
Ein Schild macht deutlich, dass auf dem Strand Hunde gerne gesehen werden, dass sie ganzjährig, 24/7, Tag und Nacht willkommen sind. Die wenigen Hunde, die hier ausgeführt werden, rasen ausgelassen in weiten Kreisen über den Strand. Kaum ein Hund wird an der Leine gehalten, keiner ist irritiert oder nervös, hier wird nicht angebellt oder dominiert, hier wird nur Stöckchen geholt. Oder Tennisbälle, die weggeschleudert wurden. Hier werden Möwen gejagt. Die Hundebesitzer sind entspannt, sie haben genug Platz. Ich hebe einige Muscheln auf, stecke sie in meine Tasche.
Ich lasse mich vom Wind bis zur Surfschule mitnehmen, denn dort ist ein Strandcafé. Heute, bei Sturm und ohne Sonne, sind nur wenige Segel auf dem Wasser. Zwei Kiter fliegen über den Schaumkronen. Einige Gruppen üben Wellenreiten. Sie liegen wie Robben in der Brandung, scheinen aber Spaß dabei zu haben.
Das Café liegt gegen den Dünen, die Terrasse ist auf dem Strand, mit den Tischen im Sand. Die Aussicht ist endlos weit nach Westen, die Welt ist champagnerfarben. Bis wann es hier auf hat, frage ich die Bedienung. Sie sieht mich an, lacht und bindet die langen Haaren zu einem Zopf. Was für eine lustige Frage. Wir sind da, bis die Sonne untergeht.
Der Weg zurück ist hart, der Wind fegt mich fast weg, Sand fliegt mir in die Augen. Die Vögel fliegen senkrecht, auf und ab, versuchen voranzukommen. Die Welt geht unter und entsteht neu. Ich bin wieder in einem Film. Um die Bunker in den Dünen schleichen schwarze Gestalten, einsatzbereit, mit Wachhunden an Ketten. Sie bereiten sich auf einen Großeinsatz vor. Die Lage spitzt sich zu, und bei der nächsten Windböe droht sie außer Kontrolle zu geraten. Worte verlieren sich sofort. Sobald sie ausgesprochen werden, sind sie weg, kein Ton ist über dem Wind zu hören. Die Luft wird immer dunkler, bedrohlicher. Der Sand fegt über die ausgestorbene Fläche.
Ich habe Diamanten in der Tasche.
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