Du kannst Papa nicht sprechen, er ist ganz hinten im Obstgarten und sucht Eier, so meine Mutter an diesem Ostersonntag am Telefon. Ich wundere mich, dass die Eltern die Tradition immer noch beibehalten, und stelle mir meinen Vater vor, wie er mit seinem sandfarbenen Fischerhut auf dem Kopf und einem Körbchen am Arm in der leichten Frühlingsbrise unter den blühenden Obstbäumen stapft, um die Ostereier zu sammeln.
In Flandern ist ein sanftes Wetter, die Luft ist tiefblau, die Apfelblüte üppig und überschwenglich schön dieses Jahr, wie die Wolken eines barocken Gemäldes. Ich überlege, meiner Mutter vorsichtig darauf hinzuweisen, dass man Männern am Besten eine Aufgabe geben sollte, die Sinn macht, logisch ist und zum Erfolg führt, aber sie will mir den Garten zeigen.
Sie schaltet die Handykamera ein. Dort ist sie, meine wunderschöne Mutter. Ich überlege, ob ich überhaupt das Recht habe, mich einzumischen, vielleicht hat sie ja einen Grund, meinem Vater ab und zu einen Korb in die Hand zu geben. Ich sehe die weite, sonnenüberflutete Landschaft, die Obstbäume, die Sträucher und Büsche. Du siehst gut aus, sagt sie. Wir wollten heute Abend Spargel essen. Deswegen.
Ich weiß nicht, was ich sagen soll.
Felix ist gestorben, sagt sie. In einem Seniorenheim, ganz plötzlich, wir haben es erst 2 Tage später erfahren. Auch ich habe Tränen in den Augen. Felix war ein Wanderfreund, er kannte sich mit der Natur aus, er war eine sanfte Person und lebte alleine. Jetzt also nicht mehr. Meine Mutter sieht weg und wechselt das Thema. Die Krähen haben die ganzen Eier vernichtet. Jetzt haben die Hühner ein anderes Versteck gesucht. Kein einziges Ei haben wir noch gefunden, schon seit 2 Tagen nicht. Aber Spargel isst man mit frischen Eiern, deswegen sucht er jetzt den Garten ab.
Zwanzigtausend Quadratmeter, so denke ich. Nichts für Anfänger.
Gerade läuten alle Glocken in den Kirchtürmen, es ist halb zehn. Ich schicke Ostergrüße ins flämische Land und hoffe, bald mal wieder hinfahren zu können. Wenn es nach Frühsommer riecht. Reife Erdbeeren in der Sonne.
Statt zu den Verwandten zu fahren, laufe ich nachmittags mit zwei Jugendlichen durch den Wald. Sie wollen barfuß durch den Bach gehen, warum nicht. Wir ziehen die Schuhe aus und waten durch den Matsch, dieses Ostern ist alles anders. Das Wasser ist noch sehr kalt, aber es hat lange nicht mehr geregnet, es ist nicht tief und hat wenig Strömung. Wenn wir die Zehen fast nicht mehr spüren, ziehen wir wieder Socken und Schuhe an, die Füße beginnen zu glühen.
Etwas weiter liegt ein Baumstamm über den Fluss. Wer traut sich, darüber zu laufen? Er liegt schon lange da, meistens laufe ich hier alleine vorbei. Die Versuchung übers Wasser zu gehen war bis jetzt eher klein. Aber jetzt ist die 22-jährige dabei. Sie springt auf den Stamm und läuft sicher bis zum anderen Ende und wieder zurück. Nicht nachdenken, so ihr Rat. Der 14-jährige tut es ihr nach. Beide sehen mich herausfordernd an.
Jeden Tag etwas tun, was Angst macht.
Das steht in Granada auf den Stufen einer Treppe zu Sacromonte, dem Heiligen Berg. Ich stelle mich auf den Baumstamm. Hält er mich? Vorsichtig gehe ich einige Schritte und merke, dass ich zittere. Der Sommerrock weht um meinen Beinen. Nicht nachdenken.
Unsicher erreiche ich das andere Ufer, ich drehe mich vorsichtig um. Was sind die anderen weit weg. Ich denke an Felix. Ich habe nicht den Mut, wieder über das Wasser zu gehen. Aber eine andere Möglichkeit gibt es nicht, ich atme ein und aus. Es ist überhaupt nicht gefährlich, 5 Meter über einen Stamm zu gehen, aber irgend etwas in mir wehrt sich dagegen.
Es fühlt sich erst gut an, wenn ich es geschafft habe und wieder herunterspringe. Es beschäftigt mich noch eine Weile, wie so etwas banales Angst machen kann. Aber es war wichtig, die Angt zu überwinden.
Hoffentlich lesen die Kinder das hier nicht.
Angst ist, wenn man etwas nicht unter Kontrolle hat und nicht weiß, wie es ausgeht. Es ist eine Abneigung gegen Veränderung.
Ein Virus wohnt in uns, ist Teil von uns, es ändert die ganze Welt. Keiner weiß, was kommt, wie groß es ist, wie es ausgeht, was die Folgen sein werden. Schlimmer geht es nicht.
Wir sind schon da, auf dem Boden der Angst. Wir können genauso gut versuchen, damit zu leben, so dass sie uns nicht lähmt. Weitergehen, irgendwie.
Im Wald hat sich ein Teppich von Buschwindröschen, Schabockkraut und Waldfeilchen ausgestreckt. Sie blühen, bis die Blätter der Bäume gewachsen sind und das Licht für sich beanspruchen. Im Herbst werden die Blätter fallen und die Pilze kriegen ihre Zeit. Alles ist in Bewegung, alles ändert sich. Die Hühner verstecken die Eier, die Krähen lernen dazu. Bald sind die Erdbeeren reif.
Die Natur atmet ein und aus und macht einfach weiter.
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