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Autorenbildkatelijne7

Antikörper

Es kommt leider im Moment sehr häufig vor, dass die Restmülltonnen nicht richtig entleert werden, so die freundliche Dame der Hamburger Stadtreinigung. Die Leute stopfen zu viel in die Mülleimer, und so bleibt ein Teil des Abfalls drin hängen. Ich überlege kurz. Schaut keiner mehr in die Tonne nach dem Entleeren? Und merkt man nicht, dass eine Tonne noch halb voll ist, wenn man sie zurückstellt?

Sie können immer noch einen weißen Sack dazustellen, so berät sie mich weiter. Die gibt’s für 3 Euro bei Budnikowski.

Ach so. Wieso ich bei der Hamburger Stadtreinigung anrufe und mit einer engagierten Mitarbeiterin über den Müll schnacke, ist eine längere Geschichte.

Jetzt sind sie gechipt, die Tonnen, sagt der Mann von der Müllabfuhr auf der Straße. Sie können jetzt dem jeweiligen Besitzer zugeordnet werden. Das macht man um zu vermeiden, dass man in die Versuchung kommt, irgendwo eine größere Tonne mitgehen zu lassen und nur für eine kleine zu bezahlen. Aber wer klaut Mülltonnen? Und wie?

Ich rufe einen meiner Brüder an, er arbeitet bei einer Müllentsorgungsfirma. Ich will ihn fragen, ob in dieser Zeit der Kontaktbeschränkung der Abfall anders aussieht. Ich kenne seine Geschichten von Eheringen und Kartoffelmessern im Küchenabfall, aber sonst? Gibt es etwas spannendes? Nora, meine 14-jährige Nichte ist am Telefon. Ob ich das Lama Winter kenne? fragt sie aufgeregt. Es wird eine Statue bekommen. Ja, ich habe davon gehört.

In Belgien wohnt ein Lama namens Winter.

Winter hat, wie alle Lamas, spezielle Antikörper im Blut, die in der richtigen Kombination bestimmte Coronaviren wie das COVID-19 unschädlich machen können. Sie binden sich an ein wichtiges Protein, das spike-Protein, und blockieren es.

COVID-19 invadiert normalerweise mit Hilfe von einem spike-Protein eine Zelle. Die Lama-Antikörper sorgen nun dafür, dass das nicht mehr klappt. Die Universität im flämischen Gent untersucht, wie man diese Antikörper bei dem Menschen erfolgreich einsetzen kann.

Im Gegensatz zu einer Impfung ist die Behandlung mit Antikörpern viel schneller. Die schützenden Stoffe gelangen direkt in den Körper, so dass der Schutz sich sofort entfalten kann, und nicht erst nach Monaten, wie bei einer Impfung. Da muss nämlich die Immunantwort des Körpers erst noch abgewartet werden. Außerdem reagiert  das Immunsystem von manchen Menschen, vor allem von älteren Personen, eher bescheiden und unklar auf eine Impfung.

Das Lama hat zwei Arten von Antikörpern im Blut, eine Art hat die Größe der menschlichen Antikörper, die andere ist viel kleiner, ungefähr ein Viertel davon. Das sind die nanobodies. Die wurden schon in verschiedenen Therapieansätzen eingesetzt. Sie können inhaliert werden, was die Therapie richtig angenehm macht, sowohl vorbeugend, als auch wenn man schon krank ist, um den Verlauf der Krankheit zu lindern.

Es gibt also Hoffnung. Warten Sie noch eine Woche, die Universität Gent wird bald in einem offiziellen Fachblatt die Lama-Winter-Studie veröffentlichen.

Nora holt jetzt ihren Vater ans Telefon. Was mich denn interessiere? Im Müll findet man alles. Ein Gebiss oder einen Revolver. Aber nicht jeden Tag. Scheren und Messer. Geldbeutel. Es wird vieles entsorgt, gerade, wenn man viel Zeit zuhause verbringt. Keller und Speicher werden aufgeräumt, der Garten wird umgegraben, die Blumenkübel und die Beete vorbereitet, bald haben wir ja die Eisheiligen.

Es hängt eine nervöse Spannung in der Luft, die Ungeduld wächst, man will sich wieder mit Menschen treffen, Freunde einladen, Verwandte besuchen, verreisen. Auf der Straße ist viel los, die Zeit der Isolation scheint vorbei. Arbeitgeber verteilen Verhaltensregeln, holen die Angestellten wieder aus dem Homeoffice zurück. Es fühlt sich so an, als ob jeder so schnell wie möglich wieder zur Normalität zurück will.

Aber ist die Normalität noch gültig? Was meint das Lama Winter dazu? Vielleicht wird alles anders jetzt. Die Welt stand kurz still. Für manche Personen für immer.

Es gibt viele Menschen, die wie in einem wilden Strudel keinen Moment von Ruhe hatten, keinen Tag ohne die schwerst mögliche Belastung. Aber viele Menschen bekamen auch einfach Zeit geschenkt. Zeit, zu überlegen, was wichtig ist im Leben, was man zum Überleben braucht und was überflüssig ist. Worauf kommt es nun an?

Überdenken Sie Ihre Beziehungen, denn darauf ist die Gesellschaft aufgebaut. Finden Sie heraus, wo Sie gebraucht werden, und was Sie überhaupt brauchen. Kunst. Liebe. Freiheit.

Was ist wirklich wichtig? Hören Sie zu, stellen Sie sich eine Herausforderung. Relativieren Sie. Lachen Sie mal wieder.

Sie brauchen nicht gleich Ihren Ehering in den Gartenabfall zu entsorgen.

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