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16 Monate gereift

Bad Brambacher steht auf der hellgrünen, durchsichtigen Flasche. Sie ist naturell, 750 ml purer Genuss ohne Kohlensäurezusatz, seit 1908 und kostet 8,50 Euro. Ich werde die Flasche für immer bewahren, ich werde sie im Pfandautomaten nicht los. Vor allem nicht zu einem vernünftigen Preis.

Vielleicht kann ich sie als Blumenvase verwenden und den grauen Plastikdrehverschluss entsorgen. Er muss natürlich vorher gründlich untersucht werden. Es ist ein hässlicher Verschluss, aber vielleicht birgt er einen Schatz. Eine feine Scheibe Edelmetall oder so. Denn das Design der Flasche rechtfertigt den Preis nicht, der Name auch nicht. Ich sehe im weltweiten Netz, dass ein Discounter dieses Wasser für 0,80 Euro pro Liter anbietet. Lediglich in einer anderen Verpackung. Die Flasche, die ich gerade erworben habe, ist schlank und edel, das Etikett jedoch genauso langweilig wie auf den anderen Flaschen.

Eine der gruseligsten Bastelarbeiten in der Grundschule bestand darin, Glasflaschen mit Wolle zu umwickeln. Die ganze Flasche wurde mit Kleber eingeseift, das Kind inbegriffen, die Wolle war muffig, warm und pieksig, das schöne glatte Glas verschwand. So entstand aus einem leichten, transparenten Gefäß etwas Schweres und Unklares aus Wolle. Das Objekt war nicht mehr schön anzufassen. Die Transparenz verschwand vollständig. Keiner konnte noch durchblicken, ab da wusste man nicht mehr, woran man war.

Aber so wurde die Flasche bruchsicher, immerhin. Keine Verletzungsgefahr. Vielleicht sollte man die Weinflaschen so einkleiden, dann können die Scherben nicht mehr in Fingern schneiden, wenn man sie ungeschickt aufmacht. Und der Wein behält die optimale Temperatur.

Haben Sie eine Zimmernummer für mich?, fragt der junge, frisch frisierte Kellner. Was für eine Anmache. Ich versuche, ihn streng anzusehen. Er kommt mit einer großen Ledermappe auf mich zu. Oder einen Veranstaltungscode? Das wird ja immer doller. Ich schüttele den Kopf und zeige auf die Mappe. Mit einer leichten Beugung legt er sie mir vor. Ich öffne sie langsam, er hat die Augen niedergeschlagen und wartet. Ich lege einen Schein in die Mappe, er nimmt sie wieder, verbeugt sich und geht zwei Schritte bis zu seinem Pult. Dort sucht er. Erst vorsichtig, dann unbeherrschter, er kramt wild herum. Eine Kollegin kommt dazu, und noch eine. Er sieht mich nervös an. Kein Wechselgeld. Ob ich es passend hätte?

Ich hätte ihm Trinkgeld geben können, es geht ja nur um 1,50. Aber es geht auch ums Prinzip. Wenn schon die Flasche Wasser diesen Preis hat, muss einer wenigstens Wechselgeld haben, sodass die Erwerberin nicht in eine schmerzliche Situation kommt. Aber sie verkraftet den Schmerz und wartet, die Flasche unter den Arm geklemmt. Sie bekommt eine Zwei-Euro-Münze zurück. Sie freut sich. Sie hat ein Geschäft gemacht!

Die Erwerberin der Flasche Wasser wollte die Stadt Hamburg im Abendlicht von der Plaza der Elbphilharmonie aus angucken. Sie hatte Durst und ist ins Restaurant gegangen, um etwas zu trinken. Übernachten wird sie dort nicht, auch wenn die 244 Zimmer gerade frei sind. Das Hotel Westin nennt die Zimmer modern, das ist eigentlich schon ein Ausschlusskriterium.

Mit der Beute gehe ich nachdenklich wieder raus. Es ist phantastisch auf der Plaza. Ein Geschenk für jeden Hamburger, für jeden Besucher dieser Stadt. Es ist wie fliegen, es ist wie nach Hause kommen. Die Schiffe auf dem goldenen Wasser, die tanzenden Türme, hinter denen die Junisonne grandios untergeht. Sehen Sie, spricht mich ein gut aussehender Mann an, wie die Türme einfach gerade gebaut sind, und nur die Hülle schief ist? Mit der Sonne wird die geniale Architektur deutlich.

Ja, das sehe ich, und ich kenne das. Die Hülle ist oft schief, auch wenn das Innere gerade ist. Ich muss mir Mühe geben, die Augen von dem schön geformten erklärenden Mund abzuwenden und die Türme in der Ferne anzusehen. Ist das Brusthaar? Die Türme!

Sollen wir noch etwas trinken zusammen?, wäre hier die passende Frage an einem so schönen Abend. Wir würden einen Wein kaufen, vielleicht einen Reserva aus 2014, aus La Mancha, 16 Monate gereift. Günstiger als Wasser. Dann würden wir an die Elbe gehen, vielleicht mit dem Schiff bis Övelgönne schippern. Am Strand würden wir erst an den Gärten entlanglaufen, wir würden uns an dem schweren Blütenduft betrinken. Dann eine Stelle suchen, um den Wein zu trinken, wir würden natürlich den perfekten Platz finden. Dort würden wir uns hinsetzen, ohne Worte, in den Sand. Ich war 16 Monate alt, als ich laufen gelernt habe, so würde ich ihm erzählen, er würde lächeln.

Freddy, ein Freund von meinem mittleren Sohn, hatte vor einigen Tagen ebenfalls die Idee, eine Flasche Wein ohne Korkenzieher zu öffnen. Dabei hat er sich zwei Finger fast abgeschnitten, er ist auf der Notaufnahme gelandet. Der Wein war auch nicht mehr trinkbar. Er hätte ihn lieber zuerst in Wolle einwickeln sollen.

Jetzt, an diesem Abend, würde ich einfach irgendwo klingeln, an einem Haus, das sympathisch aussieht, und die Flasche öffnen lassen.

Ja, da kann wohl jeder kommen. Als ob die Strandbewohner nichts anderes zu tun hätten, als Küchengeräte zu verleihen.

Ich bin mir sicher, dass es, wenn ich mit dem Gebäudeauskenner von der Plaza am Strand eine Flasche öffnen möchte, klappen würde. Sofort. Wir würden den Verleiher einladen, mit uns anzustoßen, so hätten wir gleich Gläser und Nüsse dazu.

Ein fabelhafter Abend würde beginnen.

Ich schwebe nachdenklich wieder die längste Rolltreppe der Welt hinunter, sie ist im Sommer besser auszuhalten als bei einem Wintersturm. Die Speicherstadt gibt das letzte Licht ab. Es gibt keine Bewegung in den backsteingesäumten Straßen, hier darf ja keiner wohnen, nur arbeiten. Das Kopfsteinpflaster ist ruhig und glänzt vornehm.

Ich habe noch ein bisschen Wasser in der Flasche, ungefähr für 50 Cent, die ich geschenkt bekommen habe.

Ich trage sie wie eine Trophäe vor mir her durch die Frühsommernacht, vielleicht leuchtet sie, wenn es dunkel wird.

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