Gewinner
Geschichte 2019
von Katelijne Gillis
unterm Eis
Wenn man durch eine Eisfläche hindurchschaut, sieht man gefiltertes Licht. Wenn die Sonne scheint, wird man geblendet, dort unterm Eis. Es ist unheimlich schön, wenn Luftblasen eingeschlossen sind. An manchen Stellen ist das Eis weiß, an anderen Stellen klar. Kleine, scharf umrissene Schneekristalle sind dort gefangen. Sie sitzen fest, bis die Sonne sie befreit. Ich bin schon frei.
Ich höre das kräftige, tiefe Dröhnen, wenn Leute übers Eis laufen. Das Schneiden der scharfen Schlittschuhe. Dumpf nehme ich Stimmen wahr, als wären sie in einem fernen Raum. Sie sind in der Sonne, sie sind in der Luft. Sie wissen nicht, dass ich hier bin. Ich lasse mich Richtung Ufer treiben, in der Mitte der Eisfläche ist es mir zu laut. Ich grüße die Wasserleiche, die dort von einigen Steinen bedeckt liegt, sie sieht mich aus ihren hohlen Augen an. Ich weiß, dass sie klare Verhältnisse liebt. Sie kann nicht viele Farben ertragen. Geordnet muss es sein. Eis von unten ist perfekt.
Ein dumpfes Geräusch lenkt mich ab. Etwas schweres, rundes, gleitet über mir. Gleich darauf durchströmt mich ein warmes Gefühl. Ich habe den Geschmack von Suur Supp im Mund.
Großmutter kocht. Sie tut Backpflaumen in die Suppe. Sie tut Aprikosen in die Suppe. Sie tut den Aal in die Suppe. Aber nur, wenn Großvater Besuch hat. Es ist eine richtige Männersuppe, die mit dem Aal drin, sagt er. Sie tut die Kräuter in die Suppe, damit man nicht merkt, dass der Aal nicht nur Aal ist, sagt Großmutter. Fischköpfe. Mal ein richtiger Schwanz. Sie lacht leise.
Das fremde Geräusch kommt wieder, und jetzt gucke ich genau hin, durch die Eisschicht, denn es ist ein neues Geräusch für mich. Es kommt und geht wieder, langsam, aber doch schnell, schwer, aber doch leicht. Das sind keine Schlittschuhe, keine Langlaufskier, keine Schlitten. Auch Hunde oder Menschen hören sich nicht nach Suppe an. Es ist ein doppeltes Geräusch, wie zwei Kugeln, die übers Eis geschoben werden. Sie rollen nicht. Die Wasserleiche schaut uninteressiert vor sich hin. Unter mir im Schlamm schwimmen träge einige Fische. Ich suche den Aal, sehe ihn aber nicht.
Ich denke nach und drehe eine Runde.
“Surfer” sagt die Wasserleiche plötzlich. Ich halte erstaunt inne. Habe ich das richtig gehört? Sie hat sich nicht von der Stelle bewegt und scheint weiterhin kein Interesse an dem Geschehen zu haben. Aber sie hat die Lage treffend wie immer erfasst. Ich sehe meine Freundin an, durchs Wasser vernehme ich ihre Stimme “der Mast kommt in die Suppenkelle, die Schlittschuhe an die Füße, Februar 1991”.
Ich konzentriere mich, da höre ich es wieder. Und ja, jetzt, wo ich weiß, dass es zwei Suppenkellen sind, die übers Eis gleiten, habe ich wieder ganz deutlich den Geschmack der Suur Supp im Mund. Der Aal schlängelt sich unter mir über den Boden, sieht mich provozierend an. “Abfall” sage ich, “du kommst mit ordinärem Fischabfall in den Topf”, aber es scheint ihn nicht zu interessieren. “Hast du schon mal Backpflaumen gegessen?”, versuche ich weiter, “Aprikosen? Wurdest du schon mal gefangen? Schmeckst du nach Schlamm?”, aber er ist schon verschwunden und ich lausche hinter den Surfern her.
Du denkst natürlich jetzt, dass ich tot bin, vielleicht verunglückt, durchs Eis gebrochen. Ein tragischer Unfall, mit dem Leben noch nicht fertig und auf ewig verdammt, in dieser Halbwelt zu existieren. Dass ich wie die Wasserleiche einfach nur schlau dasitze und Kommentare abgebe.
Ja, ich bin vielleicht tot.
Man sieht mich draußen auf der Straße, auf alten Fotografien, im Theater, kurz bevor die Lichter angehen, am Ufer des großen Wassers, in deinen Augen.
Ich spute mich durch die Blutbahnen der Stadt, fühle ihren Puls. Ich speichere unzählige Daten, von dir, von deiner Familie, von den Freunden. Ich speichere die hitzigen Gespräche bei Sonnenaufgang, wenn das Bett durchwühlt ist und die Körper dampfen. Ich folge der Spur der Leidenschaft, kenne die Flüche am fernen Ufer und das Geflüster in den schmalen Gassen, wo das Kopfsteinpflaster nass ist und das Moos auf den Fensterbänken wächst. Wo es nach schmutziger Wäsche riecht, wo Versprechungen nicht eingehalten werden.
Ich höre die vornehmen Gespräche im Rathaus. Ledergebundenes Buch, goldener Stift. Die Frau sagt „Ja, für immer“, sie denkt „ich will ein Kind von dir“, der Mann sagt „Ja“ und denkt nicht weiter. Sie sieht einfach umwerfend aus. Die Freundin schenkt ihr Blumen.
Ich kenne deine Großeltern und die von deinen Nachbarn. Ich weiß, was sie kochen. Ich kenne deine Kinder, die noch geboren werden müssen.
Hier sind die alten Fotografien. Wenn man genau hinschaut, sieht man gespenstige Tiefen im Bild. Das sind die Eindrücke, die ein Mensch hinterlässt. Er lässt sein Abbild in der Welt, seine Spuren in der Geschichte. Er geht immer weiter, bewegt sich rastlos, die Kamera kann ihn nicht einfangen. Die Straßen sind leer. Die Kutschen stehen lange an der gleichen Stelle, um die Belichtungszeit zu schaffen. Nur wer innehält, überlebt. Strumper & Co, Hamburg 1889, steht da. Die Fotos stammen aus der Sammlung “Souvenirs de Bon-Papa”. Ich war dabei, ich stehe in diesem Häusereingang dort. Man sieht mich, wenn man es weiß.
Ich habe Freunde.
Die Wasserleiche ist eine Freundin von mir. Sie sagt kaum etwas, sie weiß sehr viel. Sie beobachtet scharf. Ihre Augen sind leicht schräg und riesengroß. Sie hat eine blasse Haut und sehr blasse Lippen. Sie bewegt sich geräuschlos, der leichte Geruch ihrer Menthol-Zigaretten verrät sie. Sie ist aus der Stadt verschwunden, als sie 33 war. Man hat nicht lange nach ihr gesucht.
Der Aal ist ein Freund von mir. Aber nur, wenn alles glatt geht.
Dein Bon-Papa ist ein Freund von mir. Er liebt Likör und Zigarren, er hat den letzten Knopf seiner Weste immer auf, er hat einen Hut auf, wenn er auf die Straße geht. So gehört es sich für einen Bon-Papa. Er ist aus der Stadt verschwunden, als er 62 war.
Die Krankenschwester ist eine Freundin von mir. Die mit den grauen Haaren, Schuhgröße 42 und dem Grinsen, als hätte sie Drogen genommen. Wenn man immer Nachtwache hat, kommt das ganze System durcheinander.
Sind das deine Gedanken oder meine? Was passiert, wenn du nachts nicht schlafen kannst, und die Geräusche der Stadt hörst, wenn es im Krankenhauszimmer zu eng ist und du das Gefühl hast, du bekommst schlecht Luft? Du beleidigst mich, wenn du deinen Freunden sagst, aus dem Nichts kommt ein komischer Traum, der sich immer wiederholt.
Bist du dir sicher, dass der Traum erst anfängt, wenn ich neben deinem Bett stehe? Oder wachst du da gerade auf und siehst mich? Kommt der neue Tag aus dem Nichts, bedeutet er dir etwas? Willst du ihn mit mir verbringen, soll ich dir die Stadt zeigen?
Es ist nicht einfach, zu wissen, wo der Traum anfängt und wo er endet. Schließe die Augen. Ich nehme dich an die Hand und mache dich mit der Wasserleiche bekannt. Sie wird dich lange ansehen, mysteriös aus hohlen Augen, sie wird nichts fragen.
Ich weiß, du fürchtest dich nicht, ich habe dich schon mal mitgenommen. Wir haben den Aal gesprochen damals.
Jetzt habe ich etwas Neues, was ich dir zeigen kann. Es sind zwei Surfer, die übers Eis gleiten. Das Wasser ist fest zugefroren, ich habe von unten geguckt. Wunderschön. Siehst du die Eissurfer? Du wirst einen von ihnen in 5 Jahren heiraten.
Halte die Augen geschlossen, es geht weiter. Ich zeige dir dein Haus. Es wurde nie vollendet, einen Plan gibt es nicht. Es gehen ferne Treppen hoch und schmale Flure führen dich in unbetretene Zimmer. Es gibt Zwischenräume ohne Fenster und alte Möbel stehen herum. Man könnte das auch psychologisch betrachten.
Siehst du den Spiegel dort? Er ist alt und fast komplett schwarz. Man kann kaum noch durchgucken. Für eine gewisse Zeit habe ich in diesem Spiegel gewohnt. Es kann sein, dass ich dort die Leidenschaft fand. All diese Blicke, diese Zugeständnisse. Die Lügen. Dort habe ich dunkle Geheimnisse erfahren. Wichtige Zusammenhänge entdeckt.
Lass uns noch spazieren. Hier ist der Park, in dem du mit deinen Kindern spielen wirst. Du wirst zusehen, wie sie klettern, du wirst Tränen in den Augen haben, weil sie so ungeschickt sind und die Welt so groß.
Es kommt alles einfach so, aus dem Nichts.
Die Äste hacken den Nachthimmel in scharfe Stücke. Du machst Atemwölkchen. Jeder Gedanke nimmt Form an, schau, wie leicht sie sind. Sie heben ab in den heiteren Frosthimmel. Mach dir keine Sorgen. Die wiegen zu schwer. Es gibt keine falschen Entscheidungen. Mit jeder Entscheidung legst du deinen Weg, eine andere Möglichkeit gibt es für dich nicht, und kann es nicht geben. Schritt für Schritt zeichnest du dein Leben auf der Erde. Jeden Moment neu. Alles ist gut.
Ich bringe dich ins Bett zurück, du kannst jetzt schlafen. Ich werde wieder unter das Eis tauchen und den Menschen morgen beim Feiern zuschauen.
Nachts ist es unfassbar schön unterm Eis. Die Lichter der großartigen Stadt spiegeln sich in tausend Facetten, voller Glanz zeigen sie die verborgenen Seiten. Das dunkle Gewässer liegt ruhig da und trägt ein weißes Kleid mit tausenden Diamanten.

Illustration der Gewinnergeschichte: Heike Küster
Erschienen bei Literatur-Quickie Verlag